Die aktuelle Diskussion in Deutschland und Europa bezüglich eines möglichen Lieferstopps von Erdgas & Co. aus Russland im Zuge des Ukrainekrieges bewegt viele. Zum Teil basiert die Debatte nicht auf sachlichen Informationen. Dieser Blogartikel beleuchtet datengetrieben das Thema Versorgungssicherheit.

In dieser Analyse gehen wir von zwei Phasen aus, um die Versorgungssicherheit in Europa zu gewährleisten. In der ersten Phase sind zwei Pfade denkbar: Der eine Pfad beinhaltet einen Lieferstopp aus Russland. Demgegenüber steht der zweite Pfad, in dem Russland ein Minimum an Erdgas gemäß seinen Verpflichtungen weiterhin liefern wird. Beide Pfade haben das gleiche Ziel: Eine sichere Versorgung mit Erdöl, Erdgas und Kohle herzustellen. Und zeitgleich einen langfristigen Transfer hin zu einer regenerativen Energiewelt mit synthetischen Brennstoffen zu verwirklichen. Das ist die zweite Phase.

Wie gestaltet sich die Ausgangssituation?

Im Jahr 2020 haben die Europäer:innen 5.000 TWh Erdgas verbraucht. Zusätzlich mussten noch die Erdgasspeicher mit einer Gesamtkapazität von 1.000 TWh gefüllt werden. Zurzeit weisen diese einen Füllgrad von circa 30 Prozent auf. Deshalb gehen wir in einer Worst-Case-Betrachtung – der restliche März 2022 bleibt kalt – davon aus, dass wir 850 TWh zusätzlich im ersten Jahr zur Befüllung der Speicher benötigen.

Die nachfolgende Grafik zeigt die aktuellen auf das Jahr 2022 hochgerechneten Gasimportmengen mittels LNG aus Algerien und Norwegen, den aktuellen Import aus Russland und Eigenförderungen innerhalb der EU sowie den eben genannten Erdgasbedarf aus dem Jahr 2020.

Abbildung 1: jährliche Erdgasmengen in EU (Quelle: ENTSO-G und eigene Berechnungen, 2022)

Abbildung 1: jährliche Erdgasmengen in EU (Quelle: ENTSO-G und eigene Berechnungen, 2022)

Bei einem Totalausfall der Versorgung von Erdgas aus Russland könnten weitere 640 TWh an LNG-Importen herangezogen werden. Erkennbar dabei ist jedoch, dass dann etwa 500 TWh an Erdgas in Europa fehlen würden. Das entspricht circa 10 Prozent der Gesamtmenge. Der Engpass hier entsteht hauptsächlich durch Regasifizierungskapazitäten in Europa. Weitaus weniger relevant sind die exportierenden Länder (USA oder Katar) bzw. die LNG-Flotte, die jedes Jahr deutlich erweitert wird.

Was passiert, wenn Russland nicht mehr liefert?

Der Ausfall Russlands als Lieferant würde sich nicht sofort auf den Erdgasverbrauch auswirken. Spürbar wird der Ausfall erst, wenn es zu Spitzenverbräuchen in den Monaten Januar, Februar und März 2023 kommen wird – üblicherweise die kältesten Monate des Winters.

Denn diese Mengen kommen üblicherweise aus den Erdgasspeichern. Ohne Russlands Lieferungen jedoch verbleiben die Erdgasspeicher in Europa auf einem Stand von 30 Prozent. Diese Menge würde in den ersten Monaten der Heizperiode aufgebraucht sein. Demzufolge kann es zu signifikanten Engpässen in der zweiten Phase des Winters kommen. Dies ist in der nachfolgenden Grafik zu sehen.

Abbildung 2: ENTSO-G yearly European supply & demand (ENTSO-G, 2020/2021)

Abbildung 2: ENTSO-G yearly European supply & demand (ENTSO-G, 2020/2021)

Wie in der Abbildung deutlich wird: Durch die Saisonalität des Erdgasverbrauches ist die Wärmenutzung des Erdgases in Europa entweder direkt oder zu einem kleinen Anteil durch die Nutzung von Erdgaskraftwerken mit Fernwärmeauskoppelung erkennbar.

Wie lässt sich die Lieferlücke schließen?

Kurzfristig lässt sich die Lieferlücke nur durch einen reduzierten Erdgasverbrauch schließen. Denn die anderen Energieträger (Erdöl, Kohle) wären auch von einem Lieferausfall durch Russland betroffen. Mittelfristig benötigt Europa mindestens sechs weitere LNG Regasifizierungsterminals, von denen jeder ungefähr 100 TWh Erdgas in das System bringen kann. Dies wird jedoch nicht vor 2026 realisierbar sein.

Bis dahin werden wir in Europa mit einem Erdgaspreisniveau rechnen müssen, dass von Panik, Kältewellen in Asien und den LNG-Exportkosten geprägt ist. Dieser Zustand ändert sich aus unserer Sicht erst dann signifikant, wenn die regenerativen Wasserstoffpreise als einzige Alternative zum Erdgas das Preisniveau bestimmen werden. Die nachfolgende Abbildung zeigt die zu erwartenden Preisniveaus.

Abbildung 3: mögliche Entwicklung der Gaspreise (Quelle: Energy Brainpool, 2022)

Abbildung 3: mögliche Entwicklung der Gaspreise (Quelle: Energy Brainpool, 2022)

In der Panikphase bis 2026 werden bedeutsame Investitionen getätigt, um den Wegfall russischer Importe zu kompensieren und um Alternativen für die Erdgasnutzung zu finden. Ein signifikantes Problem dabei ist, dass ein großer Anteil an Erdgas für die Wärmebereitstellung genutzt wird.

Dies durch fluktuierende erneuerbare Energien zu ersetzen, wird kurzfristig nicht möglich sein. Zwar werden Alternativen zur Wärmebereitstellung im Wohnungsbau umgesetzt werden (Wärmepumpen, etc.). Doch dies wird nicht signifikant dazu führen, dass Konsument:innen deutlich viel weniger Erdgas verbrauchen werden.

In Grafik 4 ist am Beispiel Deutschlands zu sehen, welche Maßnahmen kurzfristig umsetzbar wären. Zum einen wäre da die vieldiskutierte Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken und eine Verschiebung des Kohleausstieges im Jahr 2022.

Was zeigt die Analyse im Detail?

In einem Szenariolauf auf der Basis des Fundamentalmodells Power2Sim haben die Analysten von Energy Brainpool folgendes verglichen: Wie wirken sich der geplante Ausstieg aus der Kernenergie sowie des Kohleausstiegs auf den Erdgasverbrauch aus, auch mit der Perspektive einer möglichen Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken? Hierdurch ergibt sich eine Ersparnis von 17 TWh Erdgas pro Jahr bei ca. 1.000 TWh Erdgasverbrauch. Der Grund für die geringe Reduktion liegt in der Fernwärmeauskoppelung der Erdgaskraftwerke. Dies kann nicht durch die bestehenden Kernkraft- oder Kohlekraftwerke ersetzt werden. Die zweite Maßnahme ist die angedachte Temperaturreduktion in den Haushalten unter dem Motto „Frieren für den Frieden“.

Unser Fazit: Die Raumtemperaturen im Haushaltsbereich zu senken, wirkt sich tatsächlich stärker auf den Erdgasverbrauch aus als die Laufzeiten der Kraftwerke zu verlängern. Erste Schätzungen gehen von 21 TWh pro Jahr aus. Die nachfolgende Grafik zeigt diese Effekte.

Abbildung 4: Erdgasverbrauch in Deutschland im Jahr 2021 und Reduktionsmöglichkeiten (Quelle: Energy Brainpool, 2022)

Abbildung 4: Erdgasverbrauch in Deutschland im Jahr 2021 und Reduktionsmöglichkeiten (Quelle: Energy Brainpool, 2022)

Den Ersparnissen gegenüber steht der Mehrverbrauch an Erdgas, insbesondere Heizgas, bei einem kalten Winter. Die historischen Schwankungsbreiten lagen bei 67 TWh in einer Wintersaison.

Resümee

Zusammenfassend ist zu konstatieren: Wir stellen fest, dass die Abhängigkeit von russischem Erdgas in Deutschland derartig groß ist, dass bei einem Lieferstopp aus Russland und einer europäischen Verteilung der restlichen Erdgasmengen, Deutschland seinen Erdgasverbrauch im Heizgasbereich oder im Industriebereich um 100 TWh pro Jahr senken muss. Dies scheint aus heutiger Sicht nicht möglich zu sein und kann nur durch einen raschen Aufbau von LNG-Terminals ausreichend kompensiert werden.

 

Hier geht es zum >> Energiemarkt-Review Februar 2022.