Schulen in benachteiligten Lagen : Startchancen-Programm – Was ist geplant und wie gelingt die Umsetzung?

Das geplante Startchancen-Programm soll Schulen in kritischer Lage besonders unterstützen. Bund und Länder haben sich am 02. Februar nach langen Verhandlungen auf das Milliardenprogramm geeinigt. Zum Schuljahr 2024/25 soll das Programm starten. 4.000 Schulen in sozial benachteiligten Lagen sollen davon profitieren. Der Bund zahlt den Ländern dafür zehn Jahre lang jährlich eine Milliarde Euro. Die Länder sollen die Bundesförderung mit Mitteln in gleichem Umfang ergänzen. Nach langen Verhandlungen beginnt nun die Phase der Umsetzung.

mit dpa

Kind bei einem Hüpfspiel Hinkepinke als Symbol für Startchancen-Programm
Das Startchancen-Programm will Kinder und Jugendliche mit ungünstigerer Ausgangslage besser unterstützen.
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Das Bundesbildungsministerium und die Länder haben sich nach zähen Verhandlungen auf das Startchancen-Programm verständigt. Das bislang größte Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kann damit wie geplant zum Schuljahresbeginn 2024/2025 starten.

Nach dieser Verständigung folgen nun die erforderlichen Ratifizierungsprozesse in Bund und Ländern, bevor im Frühsommer 2024 die formale Unterzeichnung erfolgen soll.

Das Programm startet zum 1. August 2024 und läuft über zehn Jahre. Der Bund fördert es mit einer zusätzlichen Startchancen-Milliarde pro Jahr. Die Länder beteiligen sich in gleichem Umfang. Ziel ist es, dem sinkenden Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler – insbesondere bezogen auf die Basiskompetenzen Rechnen, Schreiben Lesen –  entgegenzuwirken.

Etwa 4.000 Schulen in herausfordernder Lage und damit rund zehn Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland werden mit dem Startchancen-Programm unterstützt. An den Startchancen-Schulen wird in eine bessere Infrastruktur und Ausstattung investiert, in Maßnahmen der Schul- und Unterrichtsentwicklung und in die Stärkung multiprofessioneller Teams.

So werden die Bundesmittel auf die Länder verteilt

Die Höhe der Fördermittel, die ein Land vom Bund erhält, berücksichtigt die sozialen Rahmenbedingungen. Das gilt allerdings nur für die Gelder, die in bauliche Maßnahmen fleißen. Konkret wird bei der Verteilung der Bundesmittel der Anteil der Kinder und Jugendlichen aus armutsgefährdeten Familien und mit Migrationsgeschichte angelegt. Darüber hinaus wird in geringerem Umfang das Brutto-Inlandsprodukt der Länder berücksichtigt. Zudem verteilen die Länder die Fördermittel innerhalb des jeweiligen Landes gezielt auf Schulen in besonders herausfordernden Lagen. Die Festlegung der geförderten Schulen erfolgt durch das jeweilige Land nach festgelegten sozialen Kritierien.

Inzwischen steht fest, wie viel Geld die einzelnen Bundesländern nach dem Sozialidesx vom Bund erhalten. Wie Bildung.Table zuerst berichtete werden die Kritierien Migartionshintergrund und Armutsgefährdung der unter 18-Jährigen in den Ländern vom Bundesministerium zu je 40 Prozent gewichtet. Hinzu kommt das sogenannte negative Bruttoinlandsprodukt mit 20 Prozent. Eine geringe Wirtschaftskraft wirkt sich somit positiv auf die Mittelverteilung aus. Im Ergebnis bekommen Bayern, Berlin, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen, weniger als sie nach dem Königsteiner Schüssel erhalten hätten. Alle anderen Bundesländer erhalten mehr, als nach der sonst üblichen Verteilung der Bundesmittel.

Schon jetzt gibt es Kritik an der Mittelverteilung. So sagte Thomas Jarzombek, bildungspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Bundestag, gegenüber Table.Briefings: „Ich glaube, dass die Systematik nicht richtig ist. Wenn ein Land wie Baden-Württemberg am Ende von dem neuen Sozialindex profitiert, ist die Logik dahinter eine Falsche.“ Nach Angaben der Kultusministerkonferenz (KMK) soll die Systematik im Laufe des Programms evaluiert werden.

In NRW stehen die Schulen, die in der ersten Kohorte vom Startchancen-Programm profitierenm bereits fest. Darunter ist auch die Grundschule am Dichterviertel in Mühlheim an der Ruhr. Das Schulportal hat genauer nachgefragt, wie die Schule die Mittel für die Schulbausäule einsetzen will.

Für diese Maßnahmen sind die Startchancen-Gelder vorgesehen

  • 40 Prozent der Fördermittel sollen für eine bessere und damit lernförderlichere Infrastruktur und Ausstattung der Startchancen-Schulen eingesetzt werden.
  • 30 Prozent der Mittel fließen als sogenannte Chancenbudgets in bedarfsgerechte Maßnahmen der Schul- und Unterrichtsentwicklung, beispielsweise für zusätzliche, gezielte Lernförderung in den Kernfächern Deutsch und Mathematik. Hier können die Startchancen-Schulen Lösungen umsetzen, die zu den konkreten Herausforderungen vor Ort passen.
  • Weitere 30 Prozent fließen in die Stärkung multiprofessioneller Teams. Damit ist es beispielsweise rechnerisch möglich, allein aus Bundesmitteln jeder Startchancen-Schule eine volle zusätzliche Stelle zuzuweisen.

Weil in den ersten Schuljahren die entscheidenden Weichen für den Bildungserfolg gestellt werden, werden etwa 60 Prozent der geförderten Schülerinnen und Schüler Grundschüler sein. Neben Grundschulen werden jedoch auch weiterführende Schulen und berufliche Schulen vom Startchancen-Programm profitieren.

Der Fokus liegt auf den Basiskompetenzen

Der Fokus des Programms liegt auf einer Stärkung der Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in diesen Basiskompetenzen nicht erreichen, soll halbiert werden. Gleichzeitig sollen soziale Herkunft und Bildungserfolg entkoppelt werden. Zuletzt hatten Lernstandsuntersuchungen wie der nationale „IQB-Bildungstrend“ sowie die internationale „IGLU-Studie“ nachgewiesen, dass die Leistungen der Grundschülerinnen und Grundschüler in den Basiskompetenzen deutlich zurückgehen. Auch die aktuelle PISA-Studie stellt fest, dass das Bildungsniveau in Deutschland wie auch im OECD-Durchschnitt gesunken ist.

Das Startchancen-Programm wurde wissenschaftsgeleitet konzipiert. Eine wissenschaftliche Begleitung und Evaluation sind integrale Bestandteile des Programms und sollen dafür sorgen, dass Bewährtes auch jenseits der geförderten Schulen Wirkung entfaltet.

Das Startchancen-Programm auf einen Blick

Mit dem Startchancen-Programm sollen 4.000 allgemein- und berufsbildende Schulen mit einem hohen Anteil an sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern speziell gefördert werden. Damit soll der Bildungserfolg von der sozialen Herkunft entkoppelt werden. Investitionen sind in drei Bereichen geplant:

  • Säule I: Investitionsprogramm für eine zeitgemäße und förderliche Lernumgebung,
  • Säule II: Chancenbudget für bedarfsgerechte Lösungen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung,
  • Säule III: Personal zur Stärkung multiprofessioneller Teams.

Expert:innenforum Startchancen von WZB und Robert Bosch Stiftung

Flankierend zu den Bund-Länder-Planungen entwickeln Bildungsakteurinnen und -akteure Leitplanken zur Ausgestaltung des Startchancen-Programms. So haben das WZB und die Robert Bosch Stiftung im Dezember 2022 gemeinsam eine Initiative gestartet, um Expertinnen und Experten aus Bildungsverwaltung, Wissenschaft, Schulpraxis und Zivilgesellschaft zusammenzubringen: das Expert:innenforum Startchancen (Exsta).

Das vierte Expert:innenforum Startchancen am 30. April 2024 ging der Frage nach, wie der für das Startchancen-Programm formulierte Anspruch einer datengestützten Schul- und Unterrichtsentwicklung verwirklicht werden kann, und zwar auf allen Ebenen – angefangen von der Einzelschule, über die Kommunen bis hin zu den Ländern. Dagmar Wolf, Leiterin des Bildungsbereichs der Robert Bosch Stiftung, machte zu Beginn der Veranstaltung deutlich, dass das Startchancen-Programm durch diesen formulierten Anspruch auch die Möglichkeit bietet, eine datengestützte Steuerung im gesamten Bildungssystem voranzutreiben.

Bildungsforscherin Anne Sliwka zeigte auf, wie andere Länder diese datengestützte Steuerung bereits erfolgreich umgesetzt haben. Ziel ist die passgenaue Förderung (Intervention) des Kindes. Wie Response to Intervention auf allen Ebenen funktioniert, zeigte Sliwka am Beispiel Alberta in Kanada. Die größte Herausforderng für eine Adaption in Deutschland sieht Sliwka in der kulturellen Veränderung, hin zu einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe über alle Hierarchiebenen hinweg. In einem Gastbeitrag auf dem Schulportal haben Anne Sliwka und Britta Klopsch die datengestützte Schulentwicklung in Kanada ausfürlich dargestellt.

Martina Diedrich (Direktorin Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung Hamburg) plädierte auf dem vierten Expert:innenforum Startchancen für eine kohärente Strategie der datengestützten Unterrichts- und Schulentwicklung. Dazu gehören die Verständigung auf ein gemeinsames Ziel, auf gemeinsame Wege dorthin, die Einbeziehung verschiedener Perspektiven und die Klarheit über Verantwortungsbereiche und deren Schnittstellen im System.

Anja Jungermann (Bereichsleitung Bildungsbüro Stadt Dortmund) machte deutlich, wie ihre Kommune datenbasiert Schulen unterstützt und mit Bildungsakteuren im Sozialraum vernetzt. Was Kommunen brauchen, so Jungmann, sei eine Schüler-ID, um Bildungsverläufe analysieren zu können und damit auch die Wirksamkeit von Maßnahmen. Zudem wäre es sinnvoll, wenn Kommunen auch Zugang zu schulischen Leistungsdaten hätten, um Ressourcen zu steuern.

Wie eine konsequente datengestützte Arbeit an der Einzelschule aussehen kann, zeigte Schulleiterin Kerstin Krins von der Rothenburg-Grundschule in Berlin. Das Schulportal hat das Konzept der Schule in einer Reportage ausführich beschrieben.

Am 8. November 2023 fand das dritte Workshop-Treffen des Forums statt. Schwerpunkt war die Rolle der Kommunen. Bei den Bund-Länder-Verhandlungen zum Startchancen-Programm waren die Kommunen nicht beteiligt. Dabei spielen die Kommunen bei der Umsetzung eine entscheidende Rolle, sie sind nicht nur zuständig für die Investitionen in den Schulbau, sondern auch für die Zusammenarbeit mit Jugendhilfeträgern beispielsweise im Quartier oder Ganztag an der Schule.

Lob kam von den Expertinnen und Experten für die klar formulierte Zielvorgabe im Eckpunktepapier, in zehn Jahren die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in den Basiskompetenzen verfehlen, an den geförderten Schulen zu halbieren. Anhand dieses Ziels lasse sich das Programm wissenschaftlich evaluieren, Maßnahmen könnten entsprechend angepasst werden. Genau solch eine Evaluation hatte das Forum auf seinem zweiten Treffen im April 2023 gefordert, neben der Mittelverteilung unter den Ländern nach sozialen Kriterien.

Pressegespräch des Expert:innenforums Startchancen

Mitglieder des „Expert:innenforums Startchancen“ ordnen die Ergebnisse der Startchancen-Verhandlungen in einem Pressegespräch ein. Mit dabei sind Jutta Allmendinger (WZB, Humboldt-Universität zu Berlin), Dagmar Wolf (Robert Bosch Stiftung), Nicola Küppers (Grundschule am Dichterviertel) und Michael Wrase (WZB/Universität Hildesheim).

Wie können die Länder Schulen für das Programm identifizieren?

Aber wie sollen in den Städten und Kommunen die Schulen, die am meisten Unterstützung brauchen, identifiziert werden? Eine wichtige Entscheidungsgrundlage könnte dafür eine Studie sein, die das WZB im Juni 2023 vorgelegt hat. Dafür wurden erstmals für die Einzugsgebiete aller Grundschulen die Kinderarmutsquoten berechnet, also der Anteil der Schülerinnen und Schüler, deren Eltern Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch beziehen.

Für die Studie hat Sozialforscher Marcel Helbig auch berechnet, wie die Bundsmittel aus dem Startchancen-Programm auf die Länder verteilt würden, wenn die schulischen Kinderarmutsquoten zurgrunde gelegt werden würden.  Danach würden Bayern und Baden-Württemberg kaum Geld aus dem Programm bekommen, Bremen, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt hingegen deutlich stärker profitieren.

Die Entwicklung einer Gesamtstrategie, an der alle Bildungsbeteiligten mitwirken, hält auch die Expertenkommission für entscheidend, die für die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) ein Gutachten mit konkreten Empfehlungen für die Ausgestaltung des Startchancen-Programms entwickelt hat. Das fange schon bei der Auswahl der Schulen an, diese müsse nach einem einheitlichen und zuverlässigen Indikator erfolgen. „Ein solcher Indikator liegt schulscharf für den Anteil von Schüler:innen in SGB II Bedarfsgemeinschaften für Länder vor“, heißt es in dem Gutachten.

Beim Chancenbudget müsse gesichert sein, dass die Mittel in erster Linie genutzt werden, um Prozesse der Schul- und Unterrichtsentwicklung anzuregen. Dabei müssten die Schulen begleitet werden. „Allein die Vergabe freihändig zu verwendender Mittel an Schulen beinhaltet noch keine Erfolgsgarantie.“ Es müsse sichergestellt werden, wofür die Mittel genutzt werden können. Damit aber auf die ohnehin schon stark belasteten Schulen nicht noch mehr Arbeit zukommt, empfehlen die Expertinnen und Experten die Bildung von Schulnetzwerken, um Möglichkeiten des Transfers zu nutzen.