Konjunktur:Wirtschaft wächst stark trotz Krieg und Inflation

Konjunktur: Trotz oder wegen der unsicheren Weltlage gaben die Deutschen im vergangenen Jahr mehr Geld aus als Experten erwartet hatten.

Trotz oder wegen der unsicheren Weltlage gaben die Deutschen im vergangenen Jahr mehr Geld aus als Experten erwartet hatten.

(Foto: Val Thoermer via www.imago-images.de/imago images/Val Thoermer)

Die Deutschen haben ihre Konten leergeräumt, um trotz Rekordteuerung zu konsumieren. Das pushte die Wirtschaftsleistung 2022 um fast zwei Prozent. Aber wie geht es jetzt weiter?

Von Alexander Hagelüken

Es war ein Jahr der Extreme. Nachdem Russland die Ukraine überfallen hatte und die Preise immer weiter kletterten, prophezeite mancher den ganz großen Crash: Die deutsche Wirtschaft werde 2022 dramatisch einbrechen. Doch die Bilanz des extremen Jahres fällt ganz anders aus. Was geschieht nun in diesem Jahr?

Die deutsche Wirtschaft wuchs 2022 um 1,9 Prozent, meldete am Freitag das Statistische Bundesamt. Das ist das fünfthöchste Wachstum der vergangenen zehn Jahre. Und das trotz des Krieges, in dessen Verlauf Russland seine Gaslieferungen einstellte und so maßgeblich für die höchste Inflation seit Jahrzehnten sorgte. "Die Hiobsprognosen sind alle nicht eingetreten", sagt Veronika Grimm, Ökonomin an der Uni Erlangen. Denn die Deutschen konsumierten trotz der hohen Preise mehr als erwartet. Die Lieferketten funktionierten nach großen Problemen im Jahr 2021 wieder besser. "Und die Wirtschaft hat auf die Reduzierung der russischen Gaslieferungen reagiert", sagt Grimm. "Sie hat Gas eingespart und energieintensive Produktion durch Importe ersetzt."

So hat sich das größte aller Risiken nicht materialisiert: Dass Deutschland das Gas ausgeht, die Bürger frieren und die Firmen flächendeckend die Fabriken dichtmachen. Anders als befürchtet, sind die Erdgasspeicher randvoll. "Für diesen Winter dürfte die Gefahr eines Gasmangels gebannt sein", glaubt Energieforscherin Grimm, die zum Sachverständigenrat der Regierung gehört, den Wirtschaftsweisen.

Die Krise kostete jeden Bürger 1400 Euro

Knapp zwei Prozent wirtschaftliches Wachstum: Das ist im langfristigen Vergleich ein guter Wert. "Aber auf den zweiten Blick ist es ein schlechtes Ergebnis", sagt Timo Wollmershäuser vom Münchner Ifo-Institut. 2022 sollte das Jahr der rasanten Erholung vom Corona-Absturz werden. Fast vier Prozent mehr Bruttoinlandsprodukt erwarteten Konjunkturforscher. Bis der Krieg kam und die Preise nach oben schossen, für Energie, aber auch für Lebensmittel. Dieser Doppelschock halbierte das Wachstum. Er sorgte dafür, dass Deutschland mehr für den Import von Energie und anderem zahlen musste. Wollmershäuser macht eine bittere Rechnung auf: "Durch die Krise gingen reale Einkommen und damit Wohlstand von etwa 110 Milliarden Euro verloren - knapp 1400 Euro pro Bürger. So viel ist ihnen an Kaufkraft verloren gegangen."

Ohne Wachstum hätten die Bürger noch mehr verloren. Und dieses Wachstum überrascht angesichts des ersten großen Landkrieges in Europa seit 1945 und der Rekordinflation durchaus. "Alle dachten, dass den Haushalten wegen der hohen Preise die Luft ausgeht und sie weniger konsumieren. Es lief aber überraschend gut, in der Gastronomie, beim Shoppen. Im Dezember gingen die Autokäufe durch die Decke", berichtet der Ifo-Konjunkturchef. Viele Deutsche hätten ihre Konten stärker geräumt als erwartet, um Geld auszugeben. Die Konsumausgaben stiegen um 4,6 Prozent und waren wieder fast so hoch wie 2019, vor der Corona-Krise.

Dies liefert auch ein gutes Vorzeichen für dieses Jahr. Denn inzwischen hat die Bundesregierung die Bürger massiv von den hohen Energiepreisen entlastet. Im Dezember übernahm sie die Abschlagszahlung an den Versorger. Und nun wirken die Strom- und Gaspreisbremse, die Verbrauchern einen großen Teil der Mehrkosten abnehmen. Dazu kommen Steuer-Entlastungen. Und Einmalzahlungen sowie Lohnerhöhungen, die Gewerkschaften in Branchen wie Metall und Chemie durchsetzten.

Dies alles sorgt dafür, dass die Menschen mehr Geld zur Verfügung haben. So dürften sie mehr ausgeben. Die Teuerungsrate bleibt erst mal hoch, wird aber allein durch die Energiepreisbremsen deutlich gedrückt. "Die Gas- und Strompreisbremse führt dazu, dass die Inflation abgemildert und die Konjunktur weniger stark gedämpft wird", analysiert die Wirtschaftsweise Grimm.

Wachstum wird es erst 2024 wieder geben

Der Inflationsdruck wird insgesamt langsam weniger. Nach und nach wirken dann die Lohnerhöhungen. Ab Mitte des Jahres dürften die Einkommen stärker steigen als die Preise. Dann nimmt die Konjunktur wieder Fahrt auf, weil die Inflation die Menschen weniger plagt und sie noch mehr ausgeben.

Für ein wirtschaftliches Wachstum wie 2022 reicht es dieses Jahr wegen der nach wie vor hohen Inflation nicht, erwarten Forscherinnen und Forscher. Wachstum werde es erst 2024 wieder geben, gut ein bis zwei Prozent. Dieses Jahr stagniert die Wirtschaft bei plus/minus null. Alles bewegt sich im langweiligen Mittelfeld, im Ja, dem gleich ein Aber folgt. Die Industrie freut sich über bereits sinkende Gaspreise und zehrt von hohen Auftragspolstern, erhält aber wenig neue Aufträge. Die Baubranche stützte lange die Konjunktur, schwächelt nun aber stark. Weil die Europäische Zentralbank wegen der Inflation die Leitzinsen erhöht, ist Bauen teurer geworden. International kommen wenig Impulse. Der Internationale Währungsfonds belässt seine Wachstumsprognose für die Weltwirtschaft 2023 vorerst bei 2,7 Prozent.

Was die Stagnation der deutschen Wirtschaft nicht ist: Der tiefe Einbruch, den manche Prognostiker auch für 2023 vorhergesagt hatten. Eine Stagnation heißt, dass kein zusätzlicher Wohlstand für die Bürger geschaffen wird - nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Wirtschaftsweise fordert längere Atomlaufzeiten

Aber bestehen vielleicht Risiken, dass es dieses Jahr doch schlimmer kommt? Ja, denn im kommenden Winter droht wieder ein Gasmangel. Es könnte schwierig werden, wenn es sehr kalt wird. Oder wenn in Frankreich aufgrund von Trockenheit wieder die Atommeiler herunterfahren müssen. Oder wenn China deutlich mehr Gas verbraucht, da dort aufgrund der Lockerungen die Wirtschaft wieder voll anläuft.

Deshalb muss Deutschland weiter Gas sparen, fordert die Energieforscherin Grimm. Die Bundesregierung müsse klarer kommunizieren, welche Sparanreize die Gaspreisbremse biete. "Nur wenn dies sofort geschieht, haben die Bürger die Zeit, zu reagieren. Sie können Häuser dämmen oder Heizungsanlagen austauschen - aber nur mit genug Vorlauf."

Und dann macht die Wirtschaftsweise noch einen Vorschlag, der die Diskussionen in der Ampelkoalition weiter anheizen könnte: "Es wäre richtig, die Atomkraftwerke nicht im April abzuschalten, sondern noch etwa drei Jahre laufen zu lassen. Dadurch wäre der Strompreis in Deutschland und den Nachbarstaaten deutlich niedriger, es würden die Emissionen aus der Kohleverstromung reduziert und Gas eingespart." Erst diese Woche forderte die FDP eine Debatte über die Verlängerung der Atomlaufzeiten - was der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck sofort zurückwies.

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