Die letzte Seite in der Agenda. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Die letzte Seite in der Agenda. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Wenn die Eltern gemeinsam aus dem Leben scheiden

Fast siebzig Jahre ist ein Ehepaar miteinander durchs Leben gegangen. Nun möchten die beiden auch miteinander sterben. «Verstehst Du uns?», fragt die Mutter den Sohn.

Martin Beglinger
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«Grosspapi spricht nur noch vom Sterben», sagte eine seiner Enkelinnen schon vor einem halben Jahr. Das stimmt und stimmt doch nicht ganz. Die Worte «sterben» und «Tod» nahm er nie in den Mund, er vermied sie bis zum letzten Tag. «Ich will gehen», «ich will abtreten», «ich will mich verabschieden», so drückte er sich jeweils aus. Dass er Mitglied bei Exit war, das wussten wir schon lange, er hatte es ja oft genug erwähnt. Wir mochten es bloss nicht hören.

Mein Vater, Jahrgang 1930, war gelernter Kaufmann und hatte ein Detailhandelsgeschäft in vierter Generation geführt. Er lebte gerne, aber immer nach Plan, nie in den Tag hinein. Auch mit 88 Jahren war er nicht lebensmüde und erst recht nicht depressiv. Eher passte ihm der Begriff «lebenssatt», den er irgendwo einmal aufgeschnappt hatte, und vielleicht noch besser «lebensvoll», denn in dieser Formulierung steckt nicht die geringste Spur von Bitterkeit, und das war ihm wichtig. «Ich weiss genau», schrieb er in seiner Patientenverfügung, «was meine letzten Worte sein werden, bevor ich meine Augen endgültig schliesse: Es ist nicht selbstverständlich, dass ich ein so langes und glückliches Leben haben durfte, und dies dank meinen Eltern, meinen Schwestern, meiner geliebten Frau, unseren Kindern und meinen lebenslangen Freunden und Bekannten. Und dies alles in einem friedlichen und geordneten Land. Ich bin so dankbar dafür.»

Die letzten drei Jahre waren allerdings sehr beschwerlich für ihn. Seit einer Darmoperation im Jahr 2015 musste er sich mit einem Stoma herumschlagen, ein permanenter Schwindel liess ihn schwanken wie einen Seekranken, und mit seinem schwer geschädigten Artilleristengehör konnte er Gesprächen kaum noch folgen. Wir spürten, wie er zunehmend ungeduldig wurde. «Ich führte und führe bis heute ein selbstbestimmtes Leben in Eigenverantwortung und möchte deshalb, wenn dies nicht mehr möglich ist, absolut keine lebensverlängernden Massnahmen. Wenn nun das Lebensende kommt, akzeptiere ich das ohne Wenn und Aber», hielt er in seiner Patientenverfügung fest. Ein Altersheim kam für ihn nicht infrage, im Grunde hatte er sich schon 2015 nicht mehr operieren lassen wollen mit seinen 85 Jahren. Schliesslich willigte er trotzdem ein, seiner Frau und der Familie zuliebe.

Meine Mutter, Jahrgang 1933 und bei deutlich besserer Gesundheit als er, schwieg meistens, wenn wir zusammen am Stubentisch sassen und mein Vater wieder einmal von Exit zu reden begann. Sie ahnte, was auf sie zukommen würde, irgendwann. Seit bald siebzig Jahren waren die beiden ein Paar, sie hatte nicht nur das Geschäft gemeinsam mit ihm geführt, sondern ein ganzes Leben, das längstens so symbiotisch war wie zwei ineinander verwachsene Bäume. Sie wärmte den Puls in dieser Beziehung, er kontrollierte ihn, für beide stimmte es.

Nach der Operation hatte sie ihren Mann in den letzten drei Jahren rund um die Uhr gepflegt. Unsere Eltern mussten die Tage nehmen, wie sie kamen, aber sie waren froh, dass sie noch gemeinsam und weitgehend selbständig zu Hause leben konnten. Kurz, sie waren ein altes Paar, wie es viele und immer mehr gibt in der Schweiz.

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Plötzlich wird alles anders. Am ersten Mittwoch im vergangenen Oktober zieht die Mutter den Einkaufsroller die Treppe hoch, am nächsten Morgen kann sie nicht mehr aufstehen. Rückenschmerzen hatte sie zwar immer wieder, aber diesmal sind sie heftig wie nie zuvor. Die Röntgenbilder offenbaren, dass vier Brustwirbel schlicht zerbröselt sind, einfach weg, eine Folge von langjähriger Osteoporose. Selbst mit starken Medikamenten sind die Schmerzen so heftig, dass sie kaum noch ein Glas Wasser halten kann. Es folgen Wochen des Auflehnens, der kurzen Hoffnung, dann bröckeln die nächsten beiden Wirbel weg. Ihr Rücken ist derart verbogen, dass sie vor dem Spiegel sagt: «Das bin nicht mehr ich.» Spätestens jetzt wird auch unsere Mutter definitiv zum Pflegefall.

Die Spitex leistet grossartige Arbeit, und doch erleben wir unsere Eltern nie verzweifelter als in jenen Tagen. Es ist die Phase, in der mein Vater realisiert, wie hoch der Preis für die Autonomie ist, die er gerne hätte. Wie egoistisch darf man sein am Ende von fast siebzig gemeinsamen Jahren? Ginge er jetzt, müsste er seine Frau im Stich lassen, ausgerechnet in dem Moment, da es ihr so schlecht geht wie ihm.

«Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?», fragt auch unsere Mutter immer wieder, aber meine Schwester und ich vermögen ihr keine andere Antwort zu geben als diese: «Wir respektieren jeden Entscheid, den du triffst, und werden dich dabei unterstützen.»

Mitte November liegt sie in einem Bett im Spital, wo sie die Medikamente neu einstellen lassen musste, um kurzfristig wenigstens die schlimmsten Schmerzen etwas zu lindern. Den behandelnden Arzt hat sie freundlich weggeschickt, die Physiotherapeutin ebenfalls. Nun lächelt sie mir entspannt entgegen, als wären soeben Tonnen von ihr abgefallen, dann sagt sie: «Ich habe mich entschieden. Ich möchte mich ebenfalls verabschieden. Wir werden gemeinsam gehen.»

Von vier Wochen Intensivphysiotherapie, wie man es ihr im Spital vorschlug, will sie nichts mehr wissen, von Zweit- und Drittmeinungen auch nicht. «Ich muss doch einfach realistisch sein in meinem Alter – mit bald 86 Jahren.» Allein und mit all diesen Schmerzen in ein Pflegeheim gehen? Mit welchen Perspektiven? Was wäre das für eine Lebensqualität? Nein, das wolle sie sich ersparen. Sie wolle jetzt nur noch eines, nämlich möglichst rasch wieder nach Hause zu ihrem Mann. «Du verstehst das, gell.»

Verstehe ich das? Gleich beide zusammen? Im ersten Moment verschwimmt jeder Gedanke hinter Tränen. Aber mit etwas Abstand, ja, kann ich es nachvollziehen, sogar gut – wenigstens im Kopf. Für wen sollten sie denn länger leben und leiden? Für uns, die Kinder und erwachsenen Enkel? Als wären sie uns das schuldig. Ganz überraschend kommt der Entscheid der Mutter nicht, denn auch sie hat sich vor vier Jahren bei Exit angemeldet, wie sie uns vor kurzem sagte – oder eher: gestand. Bis vor einem Monat war das noch eine ferne Möglichkeit für unsere Mutter, jetzt nicht mehr. Unsere Eltern haben, so scheint es, aufeinander gewartet, bis beide so weit waren.

Der Entschluss ist gefasst, er ist ausgesprochen, von nun an erleben wir sie in einer tiefen Gelassenheit, die anhalten wird bis zum letzten Augenblick. Anders ist es für uns selber. Der surreale Countdown des Lebens, der jetzt beginnt, ist manchmal unerträglich. «Wir durchleben eine griechische Tragödie», sagt meine Tante. «Aber ohne Hauptprobe», antwortet mein Vater. Niemand in der Familie hat Erfahrung, wie wir mit dieser Situation umgehen sollen.

Schon die erste Frage, die sich stellt, wenn man alle Antworten selber geben will, droht uns hoffnungslos zu überfordern: wann? Als gäbe es ein richtiges Datum dafür. «Möglichst bald», findet der Vater. «So sehr» pressiere es auch wieder nicht, meint die Mutter. «Bitte nicht auch noch vor Weihnachten!», sagen wir Kinder – aber nur am ersten Tag. Schon am zweiten merken wir, dass nichts belastender wäre als ein endloses Hinauszögern. Also doch irgendwann vor Weihnachten.

Uns bleiben noch vier Wochen, maximal.

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Beide betonen immer wieder, dass sie möglichst wenig Aufhebens um ihre letzten Tage machen möchten. Eine Illusion. Ob wir wollen oder nicht, wir können uns diesem Countdown keinen Moment mehr entziehen, nachdem er einmal angelaufen ist. Anders wäre es nur, man wüsste nichts davon. Warum, fragt ein Freund, treten sie nicht einfach heimlich ab, ohne die Angehörigen damit zu belasten? Offenbar gibt es immer wieder solche Fälle, wie ich später erfahre, etwa von einem sterbewilligen Vater, der seinen Kindern partout nichts von seinem Plan verraten wollte, ja nicht einmal seiner eigenen Frau. Doch was sollten die Eltern denn sagen, wenn wir uns auf gemeinsame Weihnachten vorbereiteten? Sich durch die letzten Wochen ihres Lebens lügen? Und was erst würden wir uns später fragen, wenn aus dem Nichts heraus zwei Polizisten vor der Türe stünden, um uns mitzuteilen, die Eltern seien soeben gestorben, man möge bitte mitkommen?

Als mein Vater bei Exit anruft, um die Formulare zur Freitodbegleitung anzufordern, da hört er auf dem Telefonbeantworter, es müsse sich sechs bis acht Wochen gedulden, wer als neues Mitglied registriert werden wolle. Tags darauf liest er in der Zeitung, es gebe «Wartelisten» bei Exit, man müsse dringend zusätzliche Sterbebegleiter ausbilden über jene 35 hinaus, die bereits im Einsatz sind. Beides nimmt er freudig als Bestätigung, dass er offensichtlich doch nicht so allein sei mit seinen Vorstellungen vom eigenverantwortlichen Leben und selbstbestimmten Sterben. Mittlerweile hat Exit rund 120 000 Mitglieder, mehr als doppelt so viele wie noch vor acht Jahren. Sie alle wollen sich die Möglichkeit für diesen Ausgang offenhalten, auch wenn ihn wohl nur wenige tatsächlich nehmen werden. Im Jahr 2017 waren es 734 Menschen, denen Exit zum Tod verholfen hat, insgesamt sind es mehr als 1000 in der Schweiz. Seit 2003 hat sich diese Zahl verfünffacht.

Sehr selten sind jedoch die sogenannten Paarbegleitungen, in der Schweiz weniger als zehn pro Jahr. Im Jargon nennt man sie Bilanzsuizide, was ziemlich präzise die Nüchternheit ausdrückt, mit der meine Eltern einen Strich unter ihr schönes Leben zogen. Solche Menschen sind alt, meistens krank, aber nicht unbedingt todkrank. Sie wollen einfach abtreten «aufgrund einer lange abgewogenen, gemeinsamen Entscheidung aus schwerwiegenden Gründen», wie es im «Info-Magazin» von Exit heisst.

Meine Eltern gehören noch zur Generation der Schicksalsergebenen, ihr Weg ist deshalb die grosse Ausnahme. Doch nun geht die Generation der Selbstbestimmten in Pension – oder vielleicht schon ins Altersheim. Sie fragt nicht nur, wie alt sie werden will, sondern auch, wie sie alt werden will. Und wie nicht. Wenn für sie schon selbstverständlich ist, dass der Mensch die Geburten kontrolliert, warum dann nicht auch den Tod? Säkulare Individualisten mögen sich jedenfalls immer weniger dreinreden lassen, wie ihr Leben zu Ende gehen soll, weder von Ärzten noch vom Staat und schon gar nicht von der Kirche.

Innerhalb von Exit gibt es starke Stimmen, die bereits für eine Zumutung halten, dass ein (alter) Mensch sich überhaupt zu rechtfertigen braucht, wenn er zum wohlbedachten Schluss kommt, sein Leben beenden zu wollen. Eine Arbeitsgruppe evaluiert seit längerem, ob und wie sich der Altersfreitod liberalisieren lässt, damit Sterbewillige ohne ärztliche Diagnose zum Sterbemittel Natriumpentobarbital gelangen. Heute ist im Gesetz einzig der Grundsatz geregelt, dass Suizidhilfe nicht aus selbstsüchtigen Gründen erfolgen darf.

Anderseits gibt es weiterhin die Befürchtung, gerade die Schwachen unter den Alten könnten bei einem erleichterten Zugang vorzeitig aus dem Leben gedrängt werden, um Mühsal und Kosten der letzten Pflege zu vermeiden. Auch die Ärztekammer, das Parlament der Schweizer Ärzteschaft, hat es kürzlich abgelehnt, liberalisierte Richtlinien zur Suizidhilfe in ihre Standesordnung aufzunehmen.

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Den eigenen Hausarzt hat mein Vater schon vor längerem über seine Absicht informiert, in den letzten zwölf Monaten immer dringlicher. Vor dem Tod hatte er keine Angst. Grosse Angst hatte er davor, dass ihm der Zufall im letzten Moment das Heft aus der Hand nehmen könnte. Ein Hirnschlag über Nacht, beginnende Demenz, und schon wäre es vorbei mit der Selbstbestimmung oder zumindest sehr viel schwieriger. Als ihn sein Arzt Ende November anruft und ihm mitteilt, er habe die notwendigen Unterlagen ausgefüllt und an Exit geschickt, da hat mein Vater Freudentränen in den Augen. «Damit haben Sie mir das schönste Weihnachtsgeschenk gemacht. Bald habe ich keinen Schwindel mehr.» Es geht zum einen um die Krankenakte, zum andern um die Bestätigung, dass der Patient urteilsfähig ist. Ohne Letztere geht gar nichts. Wozu der Hausarzt jedoch nicht bereit ist: Er stellt aus Prinzip keine Rezepte aus, die Exit benötigt, um das Sterbemittel in der Apotheke zu besorgen. Nicht weil er gegen Freitodbegleitung ist, sondern weil er auf strikte Arbeitsteilung pocht. Als Arzt, sagt er, sei er für das Heilen zuständig und Exit für das Sterben. Schliesslich ist es ein von Exit vermittelter Konsiliararzt, der nach einem ausführlichen Gespräch mit meinem Vater das Rezept verschreibt. Die Hausärztin meiner Mutter hingegen ist bereit, das entsprechende Rezept auszustellen, wie es der Wunsch der Patientin ist.

Anfang Dezember meldet sich die Exit-Zentrale. Es wird eine Begleiterin für meine Mutter und ein Begleiter für meinen Vater zuständig sein. Bei Doppelbegleitungen werden getrennte Vorgespräche geführt, um sicherzugehen, dass keine Seite die andere unter Druck setzt. Jetzt muss man nur noch einen Gesprächstermin finden. Samstag? «Samstag geht nicht», sagt mein Vater, «dann kommt die Coiffeuse für meine Frau, und das ist ihr wichtig.» Dann also am kommenden Mittwoch? «Ja, aber erst am Nachmittag. Am Morgen wollen wir noch Bundesratswahlen schauen.» Die Coiffeuse gibt ihr Bestes, Mutter ist zufrieden, es ist das letzte Bild, das Vater von ihr macht. Aber die beiden lächeln nur verlegen, als die junge Frau bei der Verabschiedung sagt, sie komme gerne wieder im nächsten Jahr.

Pünktlich um 14 Uhr nach den Bundesratswahlen klingelt es. Ein Mann mit silbergrauem Haar, bunter Freizeitjacke und Rucksack steht an der Haustüre: der Sterbehelfer meines Vaters. Zuerst spricht er eine Stunde lang mit ihm, dann informiert er uns Kinder, dass in diesem Fall alle Voraussetzungen erfüllt seien. (Das gleiche, aber separate Prozedere erfolgt später bei der Mutter.) Er spricht nüchtern wie ein Buchhalter, weil er aus sechs Jahren Erfahrung weiss, dass er mit jedem Wort eine Wunde schlagen kann. Nichts, sagt der Freitodbegleiter, sei belastender als Streit unter den Angehörigen. Das kann so weit gehen wie in Genf, wo zwei Geschwister Klage einreichten, um eine Freitodbegleitung ihres 82-jährigen Bruders per Gericht zu verhindern. Ihr Bruder schied daraufhin ohne Exit aus dem Leben.

Das Gute an diesem angekündigten Sterben, wenn man ihm denn etwas Gutes abringen will: Man kann sich wirklich verabschieden. Wir blättern durch Fotoalben, wir reden über grosse Fragen und kleine, ganze Abende lang, wir lachen, weinen, staunen. Wir besprechen die Todesanzeige, formulieren einen Lebenslauf, setzen einen Abschiedsbrief auf, der mit den Sätzen endet: «Es ist ein freier Entscheid, in aller Klarheit, ohne geringste Bitterkeit. Im Gegenteil, wir sind sehr ruhig und gelassen und von grosser Dankbarkeit für unser langes und so reichhaltiges Leben erfüllt. Was will und darf man mehr vom Leben erwarten?»

Auf Youtube hört Mutter sich nochmals durch jene Musik, die sie sich für den Trauergottesdienst wünscht. Er soll mit Edvard Grieg beginnen, «Morgenstimmung». Gläubig sind sie beide nicht – er war es nie, sie ist es nicht mehr –, aber vom Wert eines Abschiedsrituals braucht sie niemand zu überzeugen. Auch «ein schönes Plätzchen» auf dem Friedhof haben sie schon ausgesucht auf einem ihrer letzten gemeinsamen Spaziergänge, mit prächtiger Sicht auf den Wiggis.

Meine Mutter erstellt eine Liste mit ihren Liebsten, die sie anrufen will, um sie zu informieren. Sie fände es «nicht in Ordnung, einfach still und heimlich durch die Hintertüre abzuschleichen». So kommen nun fast täglich Verwandte und Freunde auf Besuch, anfangs mit grosser Beklemmung, weil sie keine Ahnung haben, was sie erwartet; dann mit Erleichterung, als sie meine Eltern so entspannt dasitzen sehen und gelöst über gemeinsam Erlebtes plaudern hören; am Schluss mit Tränen und ungläubig, ob dies alles wirklich wahr ist oder nicht doch ein schlimmer Traum. Denn auf dem Sofa sieht man den beiden nicht an, dass sie es morgens vor lauter Schwindel und Rückenschmerzen kaum noch aus dem Bett schaffen.

Die häufigste Reaktion, die wir in diesen Tagen hören: «Das braucht Mut.» Das ist allerdings wahr. Doch es braucht ebenso viel Glück, um gemeinsam mit Exit sterben zu dürfen. Den allermeisten Paaren, die sich ein solches Ende erhoffen, es sogar planen, gelingt es nicht. Denn der gleiche Wille jedes Einzelnen reicht noch nicht. Beiden muss es auch gesundheitlich ähnlich schlecht gehen, und darauf nimmt das Schicksal selten Rücksicht.

Paare, die dieses Glück nicht haben, versuchen sich mit Pillencocktails und Plastiksäcken umzubringen oder mit Pistolen.

Muss man also dankbar dafür sein, dass man nicht selber gewalttätig werden muss, um sein Leben friedlich zu beenden? Meine Eltern sind es. Die Familie auch. Polizisten oder Lokomotivführer ohnehin, sagen die Freitodbegleiter. Wer andeutet, selber Hand an sich legen zu wollen, falls Exit nicht assistieren will oder schnell genug kann, den fragen die Sterbehelfer immer als Erstes: «Was ist, wenn es nicht klappt? Vielleicht liegen Sie dann gelähmt in einem Heim und sind nicht mehr urteilsfähig. Dann können wir Ihnen nicht mehr helfen.»

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Wie immer geht mein Vater weiterhin jeden Tag zum Postamt, ein Ritual, an dem er eisern festhält, obwohl alles in seinem Kopf sich dreht. «Bald wird einer weniger durch diese Strassen laufen, aber nichts ändert sich, alles bleibt gleich, das Leben geht weiter», sagt er, als er wieder zurück ist. Zu Hause sitzen die beiden auf dem Sofa, lesen Zeitung, schauen die Tagesschau, als wären es völlig normale und nicht ihre letzten Tage. Alles ist gesagt, nur eines wissen wir noch immer nicht: wann genau?

An einem Montagabend dann der Anruf des Freitodbegleiters. Die Vorbereitungen sind abgeschlossen, sein Terminvorschlag: nächster Freitag, 10 Uhr. Beide sind einverstanden. Noch vier Tage. «Jetzt geht’s mir gut», sagt er; «ich freue mich nicht darauf, aber nun soll es so sein», meint sie. Es ist wie eine Fügung und ein unendlicher Trost, dass die beiden nun «gemeinsam ins Ziel einlaufen», wie es ein Freund formuliert, der etliche Volksläufe mit ihnen überstanden hat.

Noch drei Tage. Exit rät, die beiden sollten sich schon einmal Gedanken darüber machen, was sie anziehen möchten am Tag X. Die Spitex könne allenfalls beim Umkleiden helfen. «Kein spezielles Tenue», findet mein Vater, die Spitex solle sich lieber um die Lebenden kümmern.

Am zweitletzten Tag besuchen wir die Pfarrerin, um zu sondieren, ob eine Trauerfeier vor Weihnachten noch möglich ist. Für sie ist diese Situation so neu und verstörend wie für uns, und doch anerbietet sie sich spontan, unsere Eltern auf ihrem letzten Weg zu begleiten, obwohl sie die beiden nicht kennt. Für die katholische Kirche ist das offiziell undenkbar, weil Gott allein das Leben gibt und auch wieder nimmt. Als reformierte Pfarrerin hingegen darf sie selber entscheiden und tut es auch. «Ich betrachte diese Begleitung als meine seelsorgerische Aufgabe.» Das hatten wir nicht erwartet, die Eltern noch weniger, aber sie nehmen das Angebot gerne an. Mutter wünscht sich Dietrich Bonhoeffers berühmtes Gebet, «Von guten Mächten wunderbar geborgen».

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Der letzte Tag, ein Freitag. «L. bewölkt, –4 Grad», notiert Vater das Wetter in seinen roten Kalender wie jeden Morgen. Für 10 Uhr hat er eingetragen: «Letzte Reise.» Sie haben gut geschlafen, das übliche Müesli gegessen, und als wir in der Wohnung eintreffen, lesen sie die Zeitung. Worüber spricht man, wenn man weiss, dass das Leben der Eltern noch genau 60, 50, 40, 30 Minuten dauert? Über Löcher in den Socken und Fliegenschisse auf den Fensterstoren, noch einmal über Brexit und die Gelbwesten in Frankreich – über irgendetwas, um vor allem eines zu vermeiden: bleierne Stille. Langsam haben wir Übung darin nach so vielen miterlittenen Abschieden in den letzten vier Wochen.

Es ist fünf vor zehn, die Pfarrerin trifft ein und wird von einem freundlich lächelnden Paar begrüsst. Sie könnte sich an einem ganz normalen Altenbesuch wähnen, stünden nicht die beiden Freitodbegleiter neben ihr, die gerade den ganzen Stubentisch mit farbigen Klarsichtmäppchen auslegen. Darin liegen die Protokolle für die Polizei, den Hausarzt und die Staatsanwältin, die demnächst erscheinen werden. Auch der Bestatter, 76 und selber bekennendes Exit-Mitglied, ist bereits aufgeboten. Er ist per Du mit dem Freitodbegleiter, man kennt sich schon lange. Sie alle wurden vorinformiert, alles ist bis ins Detail geregelt, Exit als Routine. Doch die amtliche Routine in unserem kleinen Kanton hat ihre Vorteile, denn sie wird uns Angehörigen eine penible polizeiliche Befragung sowie eine Legalinspektion der Verstorbenen ersparen, wie sie in den meisten Kantonen bei einem «aussergewöhnlichen Todesfall» üblich sind.

Der Freitodbegleiter fragt: «Ist heute wirklich der richtige Tag, an dem Sie sterben möchten? Wir können wieder gehen, kein Problem.» Sie sollen bleiben. Zuerst müssen beide ihr «Ja» auch schriftlich bezeugen, dann trinken sie einen ungiftigen Saft, der ihre Mägen beruhigen soll, damit der giftige besser wirken wird.

Wie oft habe ich mir in diesen letzten vier Wochen den endgültigen Abschied vorzustellen versucht, die Umarmung, die letzten Worte. Nun ist er da und will ich ihnen alles Gesagte noch einmal sagen, doch ich bringe nicht mehr heraus als zwei Wörter: «Macheds guet.»

Die Pfarrerin geht ins Schlafzimmer, die Eltern folgen ihr, die Freitodbegleiter schliessen die Türe hinter sich. Für uns Kinder war von Anfang an klar, dass wir nicht Zeugen dieses grössten Willensaktes in ihrem Leben werden wollten. Und wir sind froh, dass sie, die sich gegenseitig haben, das auch nicht von uns erwarten. Wir möchten unsere Eltern anders in Erinnerung behalten. Es reicht die Gewissheit, dass sie rasch eingeschlafen sind, wie sie es wollten und wie wir sie hinterher ein letztes Mal in ihrem Bett liegen sehen: friedlich, Hand in Hand.

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