Bestenlisten

Mit einem Platz auf der Bestenliste werden vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität. Die Longlists sind ab 2014 direkt bei jeder Bestenliste hinterlegt.

NEU: Longlist 2/2024, veröffentlicht am 5. April 2024

Bestenlisten

Orchestermusik und Konzerte

Ludwig van Beethoven: Symphonien Nr. 6 bis 9

Sara Gouzy, Laila Salome Fischer, Mingjie Lei, Manuel Walser, La Capella Nacional de Catalunya, Le Concert des Nations, Jordi Savall. 3 SACDs, Alia Vox AVSA9946 (harmonia mundi)

Wenn so musiziert wird, wie es Jordi Savall und Le Concert des Nations zelebrieren, ist es eine Lust, sich dem symphonischen Kosmos Beethovens hinzugeben. Savall, inzwischen achtzig, seit Jahrzehnten ein Top-Star der Alte Musik-Szene, wendet sich dem neunzehnten Jahrhundert mit jugendlichem Überschwang zu. Sein in allen Stimmgruppen exzellent besetztes Originalklang-Orchester explodiert förmlich, bei äußerster rhythmischer Präzision, aber nie zu Lasten der Detailarbeit und Klangschönheit. In jeder der hier eingespielten vier Symphonien sind wunderbare Verwirrungen und Überraschungen zu erleben. Ein Muss für alle Beethoven-Fans. Für die Jury: Peter Stieber

Orchestermusik und Konzerte

Weinberg: Werke für Cello

Mieczysław Weinberg: Cello Concertino op. 43b, Fantasie für Cello & Orchester op. 52, Kammersymphonie Nr. 4 op. 153. Pieter Wispelwey, Jean-Michel Charlier, Les Métamorphoses, Raphaël Feye. Evil Penguin EPRC 0045 (Bertus)

Im Jahr der Ermordung des Schwiegervaters durch das stalinistische Terrorregime der Sowjetunion schrieb der aus Polen vor den Nazis geflohene Jude Weinberg sein Concertino op. 43b in nur vier Tagen. Die überwältigende Trauer der ersten Phrase des Violoncellos raubt uns, in Pieter Wispelweys Händen, über den aschfahl balancierten Streicherakkorden von »Les Metamorphoses«, schier den Atem. Hier wird einfacher Gesang zur eindringlichsten Form der Rede über eine hoffnungslose Gegenwart: ein im Sinne des Wortes überwältigender Höreindruck, bis zur letzten Sekunde dieser vergessenen Musik. Für die Jury: Jörg Lengersdorf

Kammermusik

Weinberg: Sonaten für Violine Solo

Mieczysław Weinberg: Sonaten für Violine Solo Nr. 1 op. 82, Nr. 2 op. 95, Nr. 3 op. 126. Gidon Kremer. ECM Records 2705 (Universal)

Erst ging es um Weinbergs Kammermusik, danach um seine Kammersymphonien und nun sind die Solowerke dieses immer noch zu entdeckenden Komponisten dran: Gidon Kremer geht »seinen« Weinberg systematisch an. Die drei Violin-Solosonaten erzählen je eine ganz andere Geschichte. Mal ganz persönlich, mal strukturell. Radikal (soll man sagen: gewohnt radikal?) durchleuchtet Kremer diese Musik, kompromisslos auf höchstem spieltechnischen Stand. Und das mit seinen mittlerweile fünfundsiebzig Jahren. Ein Phänomen! Für die Jury: Benjamin Herzog

Kammermusik

Kodály: Kammermusik für Cello

Zoltán Kodály: Sonate für Solo Cello op.8, Cellosonate op.4, Sonatine für Cello & Klavier, Duo für Violine & Cello op.7. Marc Coppey, Barnabás Kelemen, Matan Porat. audite 97.794 (Note 1)

Im Jahr 1915, als Kodály seine Cello-Solosonate schrieb, verzweifelten die Interpreten noch an den damals ungewöhnlichen Techniken, den hohen Lagen, zum Beispiel, oder dem Einsatz des linken Daumens. Heute kommt kein Cellist daran vorbei. Dem Franzosen Marc Coppey ist Kodálys Musiksprache in Fleisch und Blut übergegangen, so natürlich und leicht, so frei präsentiert er sie. Er lässt sein wunderbar sonores Goffriller Cello vielfarbig leuchten, spannendste Geschichten wispern oder mit energetischem Nachdruck erzählen. In dem Pianisten Matan Porat und dem Geiger Barnabás Kelemen hat Coppey kongeniale Partner. Für die Jury: Elisabeth Richter

Tasteninstrumente

Carl Philipp Emanuel Bach: Sonaten & Rondos

Marc-André Hamelin. 2 CDs, hyperion CDA68381/2 (Note 1)

In unserer extrem polarisierten Welt lässt sich die Musik CPE Bachs als ein Kaleidoskop der Leidenschaften inszenieren. So hatte das dereinst, zum Beispiel, Mikhail Pletnjev gemacht. Gut zwanzig Jahre später geht Marc-André Hamelin einen Schritt weiter. Seine phänomenale Technik erlaubt es ihm, CPEs Kapriolen so locker und leicht zu präsentieren, dass sich neue Dimensionen auftun. Statt individuellem Emotionen-Zapping entsteht etwas Über-Persönliches. Hamelin erzeugt pure musikalische Energie, dynamisch, vielfältig und erfrischend vital. Kontraste arbeiten nicht mehr gegeneinander, sie vereinen sich in Teamarbeit zu umfassenderen Strukturen. Im Grunde ist das Zukunftsmusik. Für die Jury: Kalle Burmester

Tasteninstrumente

Aquila altera (Early Keyboards)

Werke von Jacopo da Bologna, Andrea Antico, Francesco Lambardi, Girolamo Cavazzoni, Antonio Valente, Paolo Quagliati, Andrea Gabrieli, Francesco Landini, Ercole Pasquini. Federica Bianchi. passacaille PAS 1111 (Note 1)

Federica Bianchi öffnet mit diesem Album ein Fenster in die Frühzeit der Tastenmusik. Auf einem rekonstruierten mittelalterlichen Clavicymbalum sowie zwei unterschiedlichen Cembali – jedes eine Farbwelt für sich – erschließt sie uns Werke aus dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts mit einer überwältigenden Spielfantasie und Virtuosität. So wirkt der Reiz, den Intavolierungen wie diese auf Hörer und Spieler ausübten, auch heute wieder ganz unmittelbar – bewundernswert bei einer Musik, die ein halbes Jahrtausend vor unserer Zeit geschaffen wurde. Für die Jury: Friedrich Sprondel

Oper

Jean Philippe Rameau: Les Paladins

Sandrine Piau, Anne-Catherine Gillet, Mathias Vidal, Florian Sempey, Nahuel Di Pierro, Philippe Talbot, La Chapelle Harmonique, Valentin Tournet. 3 CDs, Château de Versailles Spectacles CVS054 (Note 1)

Ein ehrwürdiger Senator will sein Mündel vor jungen Liebhabern schützen, lässt sich aber selbst mit einer hässlichen, von einem Tenor gesungenen Fee ein: In »Les Paladins«, seiner letzten zu Lebzeiten uraufgeführten Oper, mischte Jean-Philippe Rameau kongenial die Mittel des fantastischen Barocktheaters mit denen der neu aufkommenden Opera buffa. Gut, dass sich Valentin Tournet und seine La Chapelle Harmonique dieses lange unterschätzten Werks annehmen! Mit einem exzellenten Sängerensemble beweisen sie, dass es an harmonischem und instrumentatorischem Reichtum, blitzschnellen Affektwechseln und nicht zuletzt Humor seinesgleichen sucht. Für die Jury: Michael Stallknecht

Oper

Riccardo Zandonai: Francesca da Rimini

Sara Jakubiak, Jonathan Tetelman, Ivan Inveradi, Charles Workman, Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin, Carlo Rizzi, Regie: Christof Loy. DVD/Blu-ray, Naxos 2.110711/NBD0142V

Die künstlerische Beziehung zwischen Sara Jakubiak und dem Regisseur Christof Loy blüht: Nach Korngolds »Wunder der Heliane« haben beide nun Zandonais »Francesca da Rimini« vom unterschätzten Musikdrama auf die Höhe großer Frauentragödien gerettet und damit ein Werk wiedergewonnen. Zu Jakubiaks fesselnd nuanciertem Spiel strahlt ihr wandlungsfähiger, farbenreicher Sopran. Um Liebesverfallenheit und Heiratsirrtum der Heldin glaubhaft zu machen, muss ein hinreißender »Paolo il Bello« in ihr Leben treten – und das ist der an den jungen Franco Corelli erinnernde Jonathan Tetelman sowohl äußerlich wie vokal. Für die Jury: Wolf-Dieter Peter

Chor und Vokalensemble

Ligeti/Kodály – Lux Aeterna

György Ligeti: Zwei a cappella-Chöre (Luy Aeterna), Drei Phantasien nach Friedrich Hölderlin, Mátraszentimrei Dalok; Zoltán Kodály: Esti Dal, Este, Mátrai képek. Danish National Vocal Ensemble, Marcus Creed. SACD, OUR Recordings 6.220676 (Naxos)

Marcus Creed und das Danish National Vocal Ensemble lassen das klarste Ewige Licht leuchten, das seit Frieder Bernius zu hören war: Ligetis »Lux aeterna« ist hier keine Odyssee im Vokalklangkosmos, sondern ein deutlich strukturiertes Echo der Unendlichkeit. Zu einem Höhepunkt werden die Hölderlin-Phantasien Ligetis, von 1982. Auch hier wirkt die engmaschige, bis zu sechzehnstimmige Polyphonie, angereichert mit Gesten postmoderner Expressivität, als ein kinetischer Impuls für stratosphärische Ekstasen. Daneben stehen sowohl Frühwerke von Ligeti wie auch Vorbildliches von Kodály für ein Verhältnis der Reibung und Ablösung. Für die Jury: Martin Mezger

Klassisches Lied und Vokalrecital

Dissonance

Lieder von Sergej Rachmaninow. Asmik Grigorian, Lukas Geniušas. Alpha Classics ALPHA 796 (Note 1)

Dass Asmik Grigorian, gefeierte Salome in Salzburg und Senta in Bayreuth, sich für Sergej Rachmaninows Lieder einsetzt, mit dem dafür idealen Klavierpartner Lukas Geniušas und bei dem auf Qualitäten am Rande des Repertoires spezialisierten Label alpha, ist nicht nur ein souveräner Einspruch gegen die Regeln des Klassikmarktes. Aus dem Einerlei des Erwartbaren ragt dieses Album vor allem durch seine künstlerische Exzellenz heraus. Eine litauisch-armenische Sängerin, ein litauisch-russischer Pianist wecken, mit Passion und Seelentiefe, vielfarbig zwischen Innerlichkeit und großem Opernauftritt, russische Musik zum Leben: ein leiser Trost in diesen traurigen Tagen. Für die Jury: Holger Noltze

Alte Musik

Jean-Marie Leclair: Concerti per Violino

opp. 7 & 10, Nr. 4 & 5. Leila Schayegh, La Cetra Barockorchester Basel. Glossa GCD 924206 (Note 1)

In der Verschmelzung des italienischen Konzertstils von Antonio Vivaldi und seinen Zeitgenossen mit der Spieltradition des französischen Barock bereichern die Violinkonzerte des Franzosen Jean-Marie Leclair die Konzertliteratur des achtzehnten Jahrhunderts auf ebenso aufregende wie aparte Weise. Leila Schayeghs Einspielung mit La Cetra fasziniert durch ihren Farbenreichtum, organische Stimmungsübergänge sowie durch eine Virtuosität, die auch noch in den intrikatesten Momenten gelassene Souveränität ausstrahlt. Für die Jury: Carsten Niemann

Zeitgenössische Musik

Iannis Xenakis: Plèiades & Persephassa

Les Percussions de Strasbourg. CD mit Buch, Percussions de Strasbourg PDS121 (Note 1)

Unüberhörbar ist der Einfluss indonesischer Gamelanmusik in den »Pleiades« für sechs Schlagzeuger, die Xenakis 1979 für »Les Percussions de Strasbourg« komponiert hat. Zusammen mit »Persephassa«, das er zehn Jahre zuvor ebenfalls für die Straßburger schrieb, sind hier zwei Klassiker der Perkussionsmusik zu erleben, die das imposante Universum eines enorm vielfältigen Klangkörpers vor Ohren führen. Mit dem Zusammentreffen von dynamischer Bandbreite des Instrumentariums, spürbarer Spielfreude und musikalischer Perfektion wurde hier ein Stück Musikgeschichte geschrieben. Für die Jury: Marita Emigholz

Historische Aufnahmen

Johannes Brahms: Symphonien Nr. 1-4

(Command Classics Recordings). Pittsburgh Symphony Orchestra, William Steinberg. 3 CDs, Deutsche Grammophon 486 1815 (Universal)

Anders als frühere Capitol Aufnahmen entstanden diese für Command Classics Recordings unter hervorragenden Bedingungen. Dafür sorgte nicht nur das hörbar fortschrittlichere Aufnahmekonzept, sondern auch der Aufnahmeort: die »Soldiers and Sailors Memorial Hall« in Pittsburgh. Steinberg, ausgebildet in Köln bei Abendroth und Klemperer, zählt zu den europäischen Dirigenten, die nach ihrer Emigration erfolgreich mit großen amerikanischen Orchestern arbeiteten. Wie der »Classic Record Collector« berichtet, war die Reaktion des Publikums nicht etwa: »Was hat der Steinberg da mit dem Werk gemacht«; sondern: »Was ist das für ein wunderbares Werk!« Für heutige Ohren klingen die Aufnahmen sportlich. Für die Jury: Stephan Bultmann

Grenzgänge

Roraima

Sigurd Hole, Trygve Seim, Frode Haltli, Håkon Aase, Helga Myhr, Tanja Orning, Per Oddvar Johansen. CD/DL, Elvesang ELVESANG006 (Direktvertrieb)

Urwaldlaute vom Amazonas, Gezirpe, Vogelrufe, führen in die nördlichste Region Brasiliens: nach Roraima, in die Heimat der Yanomami, die durch rücksichtslose Waldrodung in Bedrängnis geraten. Das gleichnamige Stück des norwegischen Kontrabassisten Sigurd Hole integriert die Naturstimmen in die Komposition, wobei der Ruf des Rotschnabeltukans in den Improvisationen – herausragend hier: der Perkussionist Per Oddvar Johansen – zu Klanglandschaften erweitert wird, die auch den Schöpfungsmythos einbeziehen, von dem der Schamane Davi Kopenawa im Buch »The Falling Sky« erzählt. Trauermarschartig klagend verklingt die Musik. Der Rest gehört dem Regenwald, der zu weinen scheint. Für die Jury: Heinz Zietsch

Filmmusik

John Williams: The Berlin Concert

(Deluxe Edition). Berliner Philharmoniker, John Williams. 2 CDs & 2 Blu-rays, Deutsche Grammophon 486 1713 (Universal)

John Williams, der große musikalische Zeremonienmeister Hollywoods, ist derjenige, dem wir wahrscheinlich das Überleben der orchestralen Filmmusik – durch seine Star Wars-Partitur Ende der Siebziger – zu danken haben. Sein Album »The Berlin Concert« zeigt die ganze Klasse dieses Komponisten und Dirigenten. Die Berliner Philharmoniker wirken als echte Partner mit, teils verjüngt um NachwuchsmusikerInnen, die an diesem Ereignis unbedingt teilhaben wollten. Man spürt diesen Enthusiasmus in jedem einzelnen der dargebotenen Stücke. Ein besonderes Lob gilt der Deutschen Grammophon: Ob in Stereo, Dolby Atmos, Mehrkanal oder als Konzertvideo – diese Box ist ein Statement! Für die Jury: Matthias Keller

Musikfilm

Billie. Legende des Jazz

Regie: James Erskine. Billie Holiday, Tony Bennett, Sylvia Syms, Charles Mingus, Count Basie. DVD, Prokino 208 750 (EuroVideo Bildprogramm)

Billie Holiday ist eine »Legende«. Ihre stimmliche Kraft, Ausdrucksfähigkeit und Suggestivität als Jazzsängerin war außerordentlich, ihr Leben bewegt. Es gab darin viel Alkohol, auch Drogen, Vergewaltigung und Affären. James Erskine versucht, Licht in dieses Halbdunkel zu bringen. Dabei verwendet er spannendes Interview-Material der Journalistin Linda Lipnack Kuehl, die in den siebziger Jahren Gespräche mit der Sängerin geführt hatte, ergänzt durch O-Töne von Insidern, die er filmisch reizvoll in Szene setzt, mit hinreißendem Doku-Material. Ein eindrucksvoller Film über das Leben und Leiden der Jazz-Ikone und nicht zuletzt ihren politisch damals skandalösen Song »Strange Fruit«. Für die Jury: Helge Grünewald

Jazz

Per Møllehøj, Kirk Knuffke, Thommy Andersson: ’S Wonderful

Stunt Records STUCD 21102 (in-akustik)

Ein Kornettspieler aus New York, ein dänischer Gitarrist und ein schwedischer Kontrabassist widmen sich dem frühen New-Orleans-Jazz – und spielen doch ganz gegenwärtig: Sie sind moderne Musiker. Kirk Knuffke, der auch singt, kommt aus der experimentellen Szene, er nähert sich W.C. Handy und Louis Armstrong in geradezu Lester-Bowiescher Manier (»Beale Street Blues«, »St. Louis Blues«). Stilgerecht arrangierte Songs von Ellington, Gershwin und ein paar Originals runden das Programm ab. Tradition aus der Sicht von heute, kammerjazzig aufbereitet, superrelaxed gespielt. Für die Jury: Berthold Klostermann

Jazz

Avishai Cohen: Naked Truth

Mit Yonathan Avishai, Barak Mori, Ziv Ravitz. ECM Records 2737 (Universal)

Im Spiel mit seinen Quartettkollegen beschwört der israelische Trompeter Avishai Cohen eine Atmosphäre innerer Einkehr und meditativer Besinnung, in der jeder Ton emotionale Tiefe gewinnt. Dabei entwickelt sich alles aus dem Moment heraus, gestaltet sich die gemeinsame Sinnsuche im Prozess sparsamer Verausgabung und hingebungsvoller Zurücknahme. Mit geradezu andächtigen Klängen, die in der Nacht zu leuchten vermögen, entsteht eine auf das Wesentliche konzentrierte Musik von existentieller Ernsthaftigkeit, großer Wahrhaftigkeit und herber Schönheit. Für die Jury: Bert Noglik

Weltmusik

Jun Miyake: Whispered Garden

CD/2LPs, yellowbird yeb-7818 2 (Edel)

Kaum ein Musiker entführt so tief in fantastische Welten wie der japanische Trompeter Jun Miyake, der nicht zufällig auch für Pina Bausch und ihr Tanztheater komponiert hat. Daran schließt sein neues Album an. Wieder scheint die Zeit stillzustehen, während ein bewährter internationaler Cast an Stimmen Geschichten erzählt, darunter Lisa Papineau, Bruno Capinan, Arthur H sowie, neu zu entdecken: Bron Tieman; jeder in der je eigenen Sprache, im Wechselspiel mit effektvoll eingesetzten Instrumenten und subtilen Geräuschen und Sounds. Eine bezaubernde Stunde im »verbotenen Garten« – nach den Worten des Komponisten – zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit. Für die Jury: Johann Kneihs

Liedermacher

Tobi Thiele & Die Kundschafter des Liedes: Es brennt

RedHeadMusic 4270000038143 (Direktvertrieb)

Tobi Thieles drittes Album ist die Quintessenz einer bemerkenswerten Entwicklung. Die Jury der Liederbestenliste zeichnete ihn bereits 2017 mit einem Förderpreis aus. Weitere Preise folgten auf dem Fuß. Mit seiner Band, den »Kundschaftern des Liedes«, bringt er handgemachte Musik auf die Scheibe, kompositorisch wunderbar vielseitig. Die Texte sind sämtlich auf den Punkt geschrieben. Der Titelsong »Es brennt« klagt die Umweltzerstörung und unseren Umgang mit dem Klimawandel an. In »So klein« gibt es ebenso klug wie poetisch formulierte Kapitalismuskritik – ja, das ist möglich! Jedes der dreizehn Lieder ist ein in sich geschlossenes Kapitel einer umfassenden Geschichte. Für die Jury: Hans Reul

Folk und Singer/Songwriter

The Longest Johns: Smoke & Oakum

CD/LP, Decca 3876697 (Universal)

Vor zwölf Jahren endeckten vier junge Engländer auf einer Grillparty ihre Vorliebe für Sea Shanties – und The Longest Johns waren geboren. Der 2021-Hit »The Wellerman« von Nathan Evans lässt grüßen, den hatte jener auf einer CD der Longest Johns gehört. Auf ihrem aktuellen Album mixen sie clever die kernigen a cappella-Songs der Sieben Weltmeere mit Liedern, die mit meist eigener Instrumentalbegleitung und sauberen Harmonien versehen sind. Das ist mitreißend und hat durchgehend einen sehr hohen Mitsingfaktor. Können wir in Zeiten wie diesen zwischendurch gut gebrauchen. Für die Jury: Mike Kamp

Rock

Big Thief: Dragon New Warm Mountain I Believe In You

CD/2LPs/DL, 4AD 0408 (Indigo)

20 Songs, 80 Minuten Laufzeit: Die US-Band Big Thief serviert mit diesem Doppelalbum ein opulentes Menü, dessen traditionelle Zutaten neue Genussdimensionen erschließen. Das Spektrum reicht von Folkrock im Geiste britischer Ensembles der siebziger Jahre wie Steeleye Span oder Fairport Convention über bodenständiges Country-Flair mit Fidel und Maultrommel bis hin zu TripHop-Stimmungen. Dabei hält Sängerin und Songschreiberin Adrianne Lenker als Küchenchefin das breite Spektrum der überbordenden Kreativität zusammen. Und so entsteht ein buntes Kaleidoskop, ein Doppelalbum für eine Langzeitbeziehung, an dem man sich nicht satthören möchte. Für die Jury: Manfred Gillig-Degrave

Hard und Heavy

The Neptune Power Federation: Le Demon De L’Amour

CD/LP, Cruz Del Sur Music CRUZ132 (Soulfood)

Diese Band aus Sidney ist die Erlösung aus dem Jammertal des seelenlosen Rock‘n’Roll: Sie verheiratet motörheadsche Härte, Queen-Pomp, Stoner-Ruppigkeit, Beschwingtheit der frühen AC/DC und abgepfiffenes Okkult-Image mit einem treffsicherem Melodiegefühl. Frontfrau und Hohepriesterin Screaming Loz Sutch hat ein beeindruckendes Falsett – und eine ebensolche Persönlichkeit. Ihre Messen feiert sie im schwarzem Brautkleid und mit geweihbewehrten Tiaren. Ach ja, und mit »We Beasts of The Night« hat The Neptune Power Federation jetzt die beste Glam-Rock-Ballade am Start, die Meat Loaf nie gesungen hat. Wer sich diesem Kult nicht anschließt, den erwartet ewige Verdammnis! Für die Jury: Felix Mescoli

Alternative

Nilüfer Yanya: Painless

CD/LP, ATO Records 880882463816 (Rough Trade)

Diese Londoner Musikerin schreibt mit ihrem zweiten Album ein wichtiges Kapitel. Gitarreneffekte schrauben sich fast unangenehm tief in den Gehörgang, während Nilüfers markante Stimme überzeugend versichert, dass es bestimmt nicht weh tun wird – und wir glauben ihr, bis wir aufprallen. »Weiter geht’s«, rufen die Drums, die cool kids der Stadt, kurze Verschnaufpause auf samtig weichen Synths, bevor wieder Melodien mitreißen, für die sich Thom Yorke auf die Schulter klopfen würde. So krempelt uns »Painless« mit ehrlicher Verletzlichkeit, aber lässiger Coolness einmal das Herz um und ist dabei herrlich auf dem Punkt – ohne eine einzige belanglose Sekunde. Für die Jury: Sandra Gern

Club und Dance

Violet: Transparências

CD/DL, Rádio Quântica QTC005 (Direktvertrieb)

Diese dritte Veröffentlichung der Portugiesin Inês Coutinho – aka Violet – ist ein Konzeptalbum. Kompliziert oder abstrakt wird es aber nicht. Vielmehr wirkt das Programm so simpel wie genial: Jeder Track ist für eine Aktivität gedacht, die Titel sagen jeweils an, für welche. So sind die »Música para ler« (Musik zum Lesen) oder die Musik um die Natur zu betrachten voller verwaschener, melancholischer Drones, mit kaum merkbarem Beat. Diese nachdenkliche Ruhe zieht sich durch alle zehn Tracks bis hin zum Drum’n’Bass, zum Tanzen. Vielseitig sind diese »Transparências« – und dennoch ein rundes Ganzes. Für die Jury: Cristina Plett

Electronic und Experimental

Carmen Villain: Only Love From Now On

LP/DL, Smalltown Supersound STS399 (Cargo)

Fourth World, Dub, Ambient und Cosmic Jazz sind die Begriffe, mit denen die norwegisch-mexikanische Produzentin und Multi-Instrumentalistin Carmen Villain ihre Musik beschreibt. Auf ihrem vierten Album verwebt sie Selbsteingespieltes mit Field Recordings sowie mit Gastbeiträgen von Arve Henriksen (Trompete, Electronics) und Johanna Scheie Orellana (Flöten). Subtil surreale Klangwelten entwickeln einen unwiderstehlichen Sog. Der Titel »Only Love From Now On« wirkt angesichts der aktuellen Weltlage wie eine prophetische Beschwörung – erschienen ist das Album just an jenem fatalen 24. Februar 2022. Für die Jury: Guido Halfmann

Blues

John Mayall: The Sun Is Shining Down

CD/LP, Forty Below Records FBR 026 (Bertus)

R&B, Soul und Hip-Hop

Mary J. Blige: Good Morning Gorgeous

CD/DL, Warner 0810043688567

Sie ist die Queen of Hip Hop Soul. Mary Jane Blige könnte der Welt ihren Lauf lassen. Zu ihrem Siebenundvierzigsten bekam sie in Hollywood Stern Nummer 2626. Ihr Debütalbum erschien 1992. Jetzt, dreißig Jahre später, beweist die Musikerin und Schauspielerin mit ihrem neuen Album – einem Allstar-Line-Up befreundeter Künstler, darunter Namen wie Usher, Dave East, Cardi B bis hin zu DJ Khaled –, warum ihr die Krone gebührt. Ihr Weg war kein einfacher und vielleicht ist es dieser Schmerz, in Verbindung mit ihrer unverkennbaren Stimme, der ihre Musik so großartig werden lässt. Und wie heißt es so schön im Titelsong: »I wake up every morning and tell myself: Good morning georgeous!« Für die Jury: Jörg Wachsmuth

Wortkunst

Werner Herzog: Vom Gehen im Eis

München-Paris 23.11. bis 14.12.1974. Ungekürzte Autorenlesung. mp3-CD, tacheles! ISBN 978-3-86484-748-6 (ROOF Music)

Im Jahr 1974 erfährt der Regisseur, Produzent, Schauspieler und Autor vom lebensbedrohlichen Zustand der von ihm verehrten Filmhistorikerin Lotte Eisner. Seine Idee: Wenn er zu Fuß von München zu ihr nach Paris gehe, könne er sie retten. Das Vorhaben gelingt. Hier liest er seine Tagebuchaufzeichnungen mit erdig schwerer Stimme und lässt uns so teilhaben an seiner beschwerlichen Reise durch Sturm, Hagel und Matsch. Wir frieren mit ihm in verlassenen Heuschobern, sitzen mit am Tisch bei Bauern, trotten mit ihm über endlose Landstraßen. Die Autorenlesung gerät zu einer faszinierenden Meditation über das Leben. Für die Jury: Dorothee Meyer-Kahrweg

Kinder- und Jugendaufnahmen

Hans Joachim Schädlich: Der Sprachabschneider

Thomas Nicolai. sauerländer audio ISBN 978-3-8398-4402-1 (Argon Verlag)

Mittlerweile ist diese Geschichte ein Klassiker der Kinderliteratur. Sie schildert die Geschichte vom fantasiebegabten Paul, der einem ihm unbekannten Mann Stück für Stück seine Sprache überlässt, im Gegenzug für Hausaufgaben. Thomas Nicolai erzählt das zunächst mit gelassener Stimme, ganz der verträumten Haltung des jungen Protagonisten entsprechend, umrahmt von einem chilligen Saxophonsolo. Als die Sache immer mehr Fahrt aufnimmt, steigert sich der Sprecher nach und nach und entwickelt diabolische Ausdrucks-Facetten, die spürbar werden lassen, wie dieses undurchdachte Geschäft existenziell beängstigende Formen annimmt. Für die Jury: Regina Himmelbauer

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