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Mathieu von Rohr

Afghanistan Beschützt Kabul!

Mathieu von Rohr
Ein Kommentar von Mathieu von Rohr, Ressortleiter Ausland
Der Westen ist in Afghanistan gescheitert. Ein neuer Militäreinsatz, um die Taliban zu vertreiben, ist unrealistisch. Trotzdem haben die westlichen Truppen noch eine Aufgabe: Sie müssen Friedensverhandlungen erzwingen.
Ein Blick in die Vergangenheit: Ein »Black Hawk«-Helikopter der US-Armee über Kabul

Ein Blick in die Vergangenheit: Ein »Black Hawk«-Helikopter der US-Armee über Kabul

Foto: Florian Gaertner / photothek.de / imago images

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Der Westen ist gescheitert, in Afghanistan gescheitert. Das ist die bittere Wahrheit. Und jetzt?

Das Scheitern ist seit Langem klar – aber es wird uns jetzt in aller Deutlichkeit vor Augen geführt: Die einst von der Bundeswehr kontrollierte Stadt Kunduz ist weitgehend an die Taliban gefallen. Die vor 20 Jahren mit amerikanischer Waffengewalt vertriebenen Islamisten überrollen weite Teile des Landes im Handstreich: Nein, es ist nicht gelungen, Afghanistan zu stabilisieren. Nein, es ist nicht gelungen, eine stabile Demokratie aufzubauen. Hat man das eigentlich wirklich versucht? Und ist es richtig, sich jetzt einfach aus dem Staub zu machen?

Flüchtlinge aus Kunduz und anderen Provinzen im Norden an einer Tankstelle in Kabul am Mittwoch

Flüchtlinge aus Kunduz und anderen Provinzen im Norden an einer Tankstelle in Kabul am Mittwoch

Foto: WAKIL KOHSAR / AFP

Die Meldungen dieser Tage haben etwas von einem Déjà-vu: Schon 2015 eroberten die Taliban Kunduz, damals schlugen afghanische und alliierte Truppen sie gemeinsam wieder in die Flucht. Diesmal hat die Eroberung etwas Endgültiges.

Sie wirkt wie ein Vorbote für das, was wohl fast zwangsläufig folgen wird: Die Rückeroberung des ganzen Landes durch die Taliban. Die US-Geheimdienste haben ihre Prognosen revidiert, dass auch die Hauptstadt Kabul binnen zwölf Monaten an die Taliban fallen könnte – sie gehen jetzt von einem Monat bis 90 Tagen aus. Seit Mai, als der Abzug der US-Truppen begann, sind rund 80 Prozent der Bezirke des Landes entweder von den Taliban eingenommen oder umkämpft. Die Botschaft der USA und des Westens an die Regierung in Kabul ist eindeutig: Nun seid ihr auf euch allein gestellt.

Donald Trump und Joe Biden haben überstürzt gehandelt

Die Schuld daran, dass sich der Siegeszug der Taliban jetzt so beschleunigt, liegt bei zwei US-Präsidenten: Donald Trump schloss mit den Taliban ein Abkommen, das den Islamisten einen US-Abzug mit festem Datum versprach – und bei dem die afghanische Regierung nicht mit am Verhandlungstisch saß.

Die Taliban sagten zu, anschließend Friedensverhandlungen mit der afghanischen Regierung zu führen. Doch die entscheidende Botschaft der USA in diesen Gesprächen war: Wir wollen nach Hause, so schnell wie möglich. Der neue US-Präsident Joe Biden entschied sich, das Abkommen umzusetzen, und hat die Truppen schon weitgehend abgezogen. Die letzten US-Soldaten sollen das Land vor dem 11. September verlassen. Es ist deshalb aus Sicht der Taliban nur rational, dass sie entschieden haben, sich das Land nun mit Gewalt zu nehmen, statt Gespräche zu führen.

Der westliche Wunsch nach Rückzug ist nach 20 Jahren verständlich. Doch dieser überstürzte Abzug, ohne Plan, ohne Strategie, kann sich noch rächen. Der größte Fehler wird jetzt zum Schluss begangen. Denn nur, weil wir Afghanistan verlassen, lassen wir es noch lange nicht hinter uns. Und das gilt für Europa, das aufgrund seiner geografischen Lage mit vielen Flüchtlingen rechnen muss, noch weit mehr als für die USA.

Nach 20 Jahren einfach Reißaus?

Das eigene Scheitern ist schwer zu ertragen, wenn man es so dramatisch vor Augen geführt bekommt wie in diesen Tagen. Deshalb sind nun jene aufgewacht, die sich damit nicht abfinden wollen. In den USA fordern Politiker aus den Reihen der Republikaner, dass die Alliierten der afghanischen Armee wieder zu Hilfe kommen müssten: mit Luftschlägen, zum Teil auch mit Kampftruppen, um den Taliban etwas entgegenzusetzen oder sie gar zu vertreiben.

»Eine Verpflichtung den Afghanen gegenüber hätten die Alliierten gehabt. Aber leider sind sie ihr schon in den vergangenen 20 Jahren nicht nachgekommen.«

Der Impuls, das Land nicht einfach verlorenzugeben, ist verständlich: Fast zwanzig Jahre lang hat der Westen in Afghanistan den Eindruck erweckt, dass man der Stabilität des Landes verpflichtet sei – und nun nimmt man einfach so Reißaus? Haben die USA, hat die Bundeswehr, durch den langjährigen Einsatz nicht eine Verpflichtung gegenüber den vielen Menschen, die nicht unter den Taliban leben wollen? Doch wie schon im ganzen Afghanistan-Einsatz ist das Problem: Es ist bei vielen Vorschlägen unklar, was man jetzt noch erreichen möchte – und was politisch überhaupt durchsetzbar ist.

Und es stimmt: Eine Verpflichtung den Afghanen gegenüber hätten die Alliierten gehabt. Aber leider sind sie ihr schon in den vergangenen 20 Jahren nicht nachgekommen. Sie haben es in all der Zeit, trotz der vielen Milliarden und trotz der vielen toten Soldaten und afghanischen Zivilisten, weder geschafft, das Land dauerhaft militärisch zu stabilisieren, noch eine funktionierende Demokratie aufzubauen. Stattdessen haben sie von Anfang an mit Warlords kooperiert, die alles andere als Heilige waren.

Die beiden letzten Wahlen im Land waren eine Farce, die westlichen Alliierten schauten zwangsläufig weg – so wie sie auch schon die ganze Zeit weggeschaut hatten, als im Land eine ungeheure Korruptionsmaschinerie entstand, in der sich die afghanischen Eliten hemmungslos bereicherten. Die Glaubwürdigkeit des politischen Projekts wurde so von innen zerfressen. Militärisch zogen sich die westlichen Truppen Jahr für Jahr auf einen etwas kleineren Radius zurück – und die Taliban arbeiteten sich seit Langem Schritt für Schritt vor.

Es war nicht falsch, nach Afghanistan zu gehen

Als der internationale Militäreinsatz in Afghanistan vor 20 Jahren begann, war er eine verständliche amerikanische Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001. Das Hauptziel der »Operation Enduring Freedom« war zunächst klar: Sie sollte die Terrororganisation al-Qaida ihres sicheren Rückzugorts berauben und ihren Anführer Osama Bin Laden aufspüren und töten. Beide Ziele haben die USA in Afghanistan tatsächlich erreicht. Die Taliban wurden binnen Monaten besiegt, Afghanistan war kein »safe haven« für Terroristen mehr. Das Ziel, den Mann zu töten, der die New Yorker »Twin Towers« zum Einsturz gebracht hatte, erreichten die USA zehn Jahre später unter Präsident Barack Obama. Die Tötung Bin Ladens in Pakistan war ein Triumph.

Doch abgesehen von diesen militärischen Zielen gibt es wenig vorzuweisen. Die internationale ISAF-Mission, die auf »Enduring Freedom« folgte, und an der sich auch die Bundeswehr beteiligte, war zunächst auf sechs Monate angelegt – und endete erst knapp 20 Jahr später. Sie begann als Stabilisierungsmission, aber die konkreten Ziele waren unklar und änderten sich immer wieder.

Die Bundeswehr auf Patrouille in der Provinz Kunduz im Jahr 2012

Die Bundeswehr auf Patrouille in der Provinz Kunduz im Jahr 2012

Foto: JOHANNES EISELE/ AFP

Es war nicht falsch, nach Afghanistan zu gehen. Es war aber falsch, keine klaren Ziele zu haben – denn so war es unmöglich, konsequent zu handeln. Was galt denn nun: Sollte in Afghanistan eine lebendige Demokratie errichtet werden, sollten Mädchen und Frauen befreit und Brunnen gebaut werden? Oder sollte das Land einfach nur militärisch besetzt und damit stabil gehalten werden?

Bedroht ist die junge, städtische Generation

Doch es war nicht alles schlecht: Was sich unter westlicher Schirmherrschaft in Afghanistan in den vergangenen 20 Jahren tatsächlich heranbildete, ist eine Generation von jungen Männern und Frauen, vor allem in den Städten, die internationale Bildung und liberale Freiheiten genossen haben, und die oft international orientiert sind. Diese Menschen sind es, die vom Vormarsch der Taliban besonders bedroht sind. Und auch über sie sollten wir sprechen, wenn wir über die Verpflichtungen sprechen, die Deutschland und die USA für Afghanistan jetzt haben.

Der frühere Übersetzer für die US-Armee, Mohammed Arif Ahmadzai, mit seiner Familie in Kabul – auch sie warten noch auf ein Spezialvisum, um in die USA ausreisen zu dürfen

Der frühere Übersetzer für die US-Armee, Mohammed Arif Ahmadzai, mit seiner Familie in Kabul – auch sie warten noch auf ein Spezialvisum, um in die USA ausreisen zu dürfen

Foto: Paula Bronstein / Getty Images

Natürlich ist es richtig, dass in Deutschland jetzt vor allem über jene diskutiert wird, die für die Bundeswehr übersetzt oder gekocht haben. Es ist ein Skandal, wie wenig Interesse die Bundesregierung lange daran gezeigt hat, diese Mitarbeiter der deutschen Soldaten zu schützen – und dass sie sich formal auf so deutsche Dinge zurückzieht wie deren exakten Beschäftigungsstatus. Für diesen interessieren sich die Taliban garantiert nicht. Es ist nicht genug getan worden, um für diese Menschen Visa zu beschaffen und ihnen bei der Ausreise zu helfen.

Doch die größere Frage ist die, was am Ende dieses Feldzugs, den niemand dauerhaft fortsetzen will, nun insgesamt für Afghanistan getan werden muss.

Die Fehler, die der Westen in zwanzig Jahren Afghanistan-Einsatz gemacht hat, sind zu weitreichend, als dass das eigene Versagen jetzt mit ein paar Luftangriffen zu kitten wäre. Wenn die Taliban dadurch um ein paar Wochen hier oder dort zurückgeworfen werden, ist für sie nichts verloren – die Zeit ist ja ohnehin auf ihrer Seite.

»Der Westen ist gescheitert – aber kann er zumindest in einer Weise scheitern, die eine Hoffnung auf Frieden am Leben erhält?«

Die Forderungen, im Land nun wieder in großem Stil militärisch einzugreifen und das Land von den Taliban zu befreien, sind ebenfalls unrealistisch: Die internationalen Truppen sind weitgehend abgezogen – man müsste dazu bedeutende Streitkräfte zurück ins Land bringen. Der Westen müsste sich wieder auf einen jahrelangen Kampfeinsatz einlassen, und dafür auch die Leben der eigenen Soldaten riskieren. Dazu ist politisch niemand mehr bereit. Und hätte man denn diesmal überhaupt eine bessere Idee, was damit langfristig zu erreichen wäre?

Wer jetzt wieder in Afghanistan intervenieren will, muss deshalb vorher ganz klar die Frage beantworten: mit welchem strategischen Ziel?

Afghanistan wird ein Quell regionaler Instabilität

Die USA und ihre Verbündeten haben kein Interesse daran, nach Afghanistan zurückzukehren oder gar dauerhaft dort zu bleiben. Einerseits. Wir haben aber andererseits auch kein Interesse daran, gar nichts zu tun und zuzusehen, dass Afghanistan in einen jahrelangen Bürgerkrieg abgleitet. Wir haben kein Interesse daran, dass die Taliban Kabul überrennen, mit vielen Toten, mit vielen Flüchtlingen – und kein Interesse an einem Saigon-Szenario, bei dem die Verbündeten des Westens sich in Flugzeugen in letzter Minute außer Landes bringen müssen.

US-Sondergesandter Zalmay Khalilzad bei Gesprächen mit Taliban in Katar am Donnerstag

US-Sondergesandter Zalmay Khalilzad bei Gesprächen mit Taliban in Katar am Donnerstag

Foto: KARIM JAAFAR / AFP

Wenn islamistische Kräfte ein Land erobern, das der Westen zuvor stabilisieren wollte, ist das natürlich eine Demütigung. Aber vor allem könnte das Land zu einem Quell der Instabilität für die ganze Region werden: Wenn sich daraus ein neuer Bürgerkrieg entwickelt, in dem die alten Warlords des Nordens sich gegen die Taliban in Stellung bringen. Wenn sich die umliegenden Regionalmächte Pakistan, Iran, Indien ihrerseits über Stellvertretertruppen einmischen. Zudem hat sich der »Islamische Staat« im Land eingenistet und bekämpft seinerseits die Taliban. Die Vorstellung wäre naiv, dass die Taliban Afghanistan erobern und dann Ruhe einkehrt.

Die einzig verbliebene politische und militärische Option für die USA und ihre Verbündeten ist deshalb jetzt: Die Taliban müssen zurück an den Verhandlungstisch gezwungen werden. Das wird nach dem überstürzten Abzug schwierig genug. Internationale Truppen müssten dazu aus der Luft, aber auch zu Boden, einen Schutzwall um Kabul ziehen, die Hauptstadt und die umliegenden Provinzen.

Nur ein Friedensabkommen kann jetzt helfen

Sie müssten den Taliban eine glaubwürdige Abschreckung vorsetzen, die einen Durchmarsch in drei oder 12 Monaten unmöglich macht. Sie müsste aus mehr bestehen als aus ein paar symbolischen Luftschlägen – dürfte aber auch kein umfassender, neuer und jahrelanger Kampfeinsatz sein, der zu Hause nicht zu vermitteln wäre. Das klingt nicht nur kompliziert, das ist kompliziert und verlangt präzise Planung – aber es wäre im Moment die einzige verbliebene Möglichkeit. Auch die logistische Unterstützung für die afghanischen Streitkräfte müsste sichergestellt werden.

Afghanische Soldaten inspizieren die Schäden nach der Explosion einer Autobombe in Kabul

Afghanische Soldaten inspizieren die Schäden nach der Explosion einer Autobombe in Kabul

Foto: STRINGER / REUTERS

Das Ziel der US-Regierung unter Donald Trump war ein Power-Sharing-Agreement zwischen den Taliban und der heutigen Kabuler Regierung, wie es der US-Sondergesandte Zalmay Khalilzad aushandeln wollte. Die Absicht war richtig, sie wurde aber durch den schnellen einseitigen amerikanischen Abzug torpediert.

Ein Friedensabkommen oder eine Teilung der Macht zwischen den heutigen Kabuler Eliten und der Taliban-Führung in Katar zu erreichen, wäre immer noch das einzig sinnvolle Ziel, für das sich die westliche Militärmacht in Afghanistan jetzt noch einzusetzen lohnt. Es würde massives Blutvergießen verhindern – und folgte gleichzeitig der Logik, dass die Afghanen nun selbst die Verantwortung für ihr Land übernehmen.

Das geht aber angesichts des militärischen Vormarsches der Taliban nicht ohne eine letzte, diesmal klar definierte Intervention, wie sie auch CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen fordert.

Der Westen ist in Afghanistan gescheitert, daran ändert sich nichts. Die Frage ist jetzt nur, ob er in einer Weise scheitert, die das Land auf Jahre ins Chaos stürzt und zu einer massiven Fluchtbewegung führt, auch nach Europa.

Oder ob er es schafft, zumindest in einer Weise zu scheitern, die für Afghanistan eine Hoffnung auf Frieden am Leben erhält.