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Neues Casper-Album: Der deutsche Kendrick?

Foto: imago/ HMB-Media

Neues Album von Casper Ein Soundtrack für den deutschen Herbst

Fast wäre der Hip-Hop-Musiker Casper an seinem neuen Album verzweifelt. Düster, paranoid und brüchig ist "Lang lebe der Tod" - und ein Befreiungsschlag für den Künstler: Wird er zum deutschen Kendrick Lamar?

"Ich wollte mit diesem Album unbequeme Musik für unbequeme Zeiten machen", sagt Benjamin Griffey, besser bekannt als Casper. Ein hoher Anspruch, der es für den 34-Jährigen zunächst ziemlich unbequem machte. Der Titelsong seines dritten Albums "Lang lebe der Tod" erschien bereits vor einem Jahr, eine für den aus dem Hip-Hop-Umfeld stammenden Künstler ungewöhnlich hymnische Industrial-Rocknummer, die er zusammen mit dem Sänger Dagobert, der Indieband Sizarr und der Avantgardelegende Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten aufgenommen hatte.

Kurze Zeit nachdem Casper den monumental düsteren Song beim Kosmonaut Festival mit viel Feuerwerk live vorstellte, sollte sein viertes Album folgen. Doch Griffey kamen Zweifel, nicht alles, was bisher fertig war, schien die selbst gelegte Messlatte zu erreichen. Zusammen mit seinem langjährigen Produzenten und Komponistenpartner Markus Ganter zog er sich erneut ins Studio zurück.

Ein ganzes Jahr später wird "Lang lebe der Tod" nun in den seltsamen deutschen Herbst 2017 hinein veröffentlicht: Es ist Wahlkampf, aber es gibt keine Wechselstimmung; es gibt jede Menge Frust und Unmut, aber zum Aufbegehren sind alle zu ängstlich. Angst ist überall, vor der Kompliziertheit der Welt, vor der eigenen Zukunft, vor dem Populismus von rechts, der Unberechenbarkeit von Trump und seinem nordkoreanischen Gegenspieler, Angst davor, dass sich alles ändert und man nur daneben steht, ohne Kontrolle, macht-, rat- und hilflos.

"Lang lebe der Tod" ist ein Album geworden, das diese gesellschaftliche Stimmung im privaten Stress seines Künstlers widerspiegelt. Man hört den Songs ihre quälende Entstehungsgeschichten an. Es gibt große, nach Erlösung gierende Popmomente, aber dominant ist eine beklemmende Enge, etwas Sperriges und Widerborstiges, an dessen Widerhaken es nicht vorbeigeht.

Es ist nicht der smarte, leichtfertige Crowdpleaser, den man von Casper nach seinem Aufstieg zu einem der populärsten deutschen Musiker hätte erwarten können. Mit "XOXO" verschränkte er 2011 Rap und Indierock zu einer Musik, die den Nerv der Millennials-Generation traf, 2013 begab er sich mit "Hinterland" auf Spurensuche in der eigenen Biografie und entdeckte die großen Gesten US-amerikanischer Rockmusik.

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Die Massen umarmten den energetischen Livekünstler, der Konzerte auch mal zwei Stunden lang durchhüpft. Doch mit dem Ruhm kamen, wie bei jeder sensiblen Künstlerseele, auch die Ängste: Was, wenn Liebe in Hass umschlägt, wenn man das ständige Beurteiltwerden - Like, Herzchen, Selfie, Lächel mal! - in der Öffentlichkeit nicht mehr aushält, wenn den Fans nicht mehr gefällt, was man macht, wenn man vielleicht selbst gerade nicht weiß, wie's geht und wohin die Reise geht?

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Neues Casper-Album: Der deutsche Kendrick?

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"Lang lebe der Tod" erzählt von diesem Druck. Der makabere Titelsong handelt von unserer Lust am Spektakel, vom blutrünstigen Draufhalten auf Scheitern und Massaker. Im Videoclip zur Single "Keine Angst" stürzt ein Liveklub um die Musiker herum ein, obwohl der gerade heraus rockende Song, ein Duett mit dem Goth-Pop-Sänger Drangsal, eigentlich Mut machen soll. Aber selbst die Rettungsnetze sind hier fragil. "Ich fühl mich wie ich fühl, weil ich nichts mehr fühl/ Diese Wände kommen näher/ Fühl mich wie ich fühl, weil ich nichts mehr fühl/ Kann mich irgendjemand hören?", singt Casper, rasend über seine eigene Paranoia.

Die entlädt sich in der Chaos-Attacke von "Sirenen" weiter und mündet mit dem trotzigen Battletrack "Lass sie gehen" in Flucht und mutwilliger Abschottung: "Ich lieb die Stimmung kurz bevor hier alles hochgeht/ Und selbst die Feinde meiner Feinde wollen mich am Boden sehen", wütet er gegen die Hip-Hop-Szene und Musikbranche, deren Konkurrenz-Klein-Klein und Missgunst-Gezeter er hinter sich lassen will: "Alle meine Sorgen, lass sie gehen/ Die gehen über Bord/ Ich lass sie gehen/ Fange von vorn an, lass sie gehen".

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26.04.2024 08.39 Uhr

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Der Sound dazu hat noch weniger mit Rap zu tun als auf "Hinterland". Analog zu seiner Frust- und Leidenslyrik zitiert Casper den metallisch-nihilistischen Wave-, Hardcore- und Industrialrock von Joy Division, Die Krupps, Ministry und Nine Inch Nails, er singt mehr als dass er rappt, es ist ein neues Genre, das er für sich interpretiert, tief verwurzelt in den Achtzigern und Neunzigern, die ihn musikalisch prägten. Insofern verbirgt sich im Lärm der Verzweiflung von "Lang lebe der Tod" für Casper auch ein künstlerischer Befreiungsschlag, ein mühsames Duchringen, den eigenen Eingebungen zu folgen, nicht den Einflüsterungen und Irreleitungen von außen. Nicht alles, aber vieles auf "Lang lebe der Tod" gehört zum Besten, was Casper bisher veröffentlicht hat, textlich wie musikalisch.

In seiner Gestik erinnert das an Kendrick Lamar, der in den vergangenen Jahren eine ähnliche Laufbahn nahm - schneller, überwältigender Ruhm, Zweifel am eigenen Talent und der zugeschriebenen Messias-Rolle - und sich mit seinem Anfang des Jahres veröffentlichten Album "Damn" furios auf sich selbst besann.

Wenn sich Casper in "Deborah" und "Meine Kündigung" seinen tiefsten Depressionen und seiner Sehnsucht nach Auslöschung stellt, ist es wie ein Pendant zu Kendricks "Fear". Wie bei Lamar kommt aber auch die Tagespolitik nicht zu kurz: In "Morgellon" nimmt er die Rolle eines AfD-Wählers ein, der nur in seiner populistischen Blase existiert und mit Lügen radikalisiert wird, bis er sich in einem Land des Schreckens wiederfindet - die Kehrseite der schmerzlindernden Isolation.

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Sorgen machen muss man sich um Benjamin Griffey nicht, am Ende, fast etwas zu Hollywood-artig, lässt er in "Flackern, Flimmern" doch noch die Möglichkeit eines Happy Ends durchblicken, den großen, ewigen Anker der Liebe. Sich selbst scheint er mit diesem Kraftakt eines Albums errettet zu haben. Genau rechtzeitig, um uns durch diesen seltsamen, wahrscheinlich noch sehr stürmischen Herbst zu begleiten.

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