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Coronavirus Das Vermächtnis des Whistleblowers

Li Wenliang warnte als erster Arzt vor dem Coronavirus. Nun ist er selbst daran gestorben. Sein Tod hat China schwer getroffen. Für die Führung in Peking verschärft sich damit die politische Krise.
Aus Peking berichtet Georg Fahrion
Li Wenliang warnte vor dem Coronavirus - nun ist er daran gestorben

Li Wenliang warnte vor dem Coronavirus - nun ist er daran gestorben

Foto: STR/ AFP

Li Wenliang sollte nicht sterben, um keinen Preis, es durfte einfach nicht sein. Schon vor drei Stunden habe Lis Herz zu schlagen aufgehört und die Atmung ausgesetzt, sagte ein behandelnder Arzt in der Nacht auf Freitag, um 0.45 Uhr. Doch er hoffe auf ein Wunder. Eine Krankenschwester hatte zu diesem Zeitpunkt wohl schon jede Zuversicht verloren: In einem stillen Moment, an eine Wand im Erdgeschoss gelehnt, brach sie in Tränen aus, ihr Schluchzen hallte durch den Flur. Bis die Ärzte ihren Kampf um Lis Leben aufgaben und die künstliche Lunge abschalteten, sollten noch mehr als zwei Stunden vergehen.

So schildert ein Reporter  des chinesischen Magazins "Renwu" die dramatische Nacht im Zentralkrankenhaus von Wuhan, an deren Ende eine traurige Gewissheit steht: Li Wenliang, Augenarzt, Whistleblower, Held einer Nation in einer schweren Krise, ist einer Infektion mit dem neuen Coronavirus 2019-nCoV erlegen - genau die Krankheit, vor der er als Erster warnte. China ist tief erschüttert, demoralisiert, die Epidemie hat nun einen Märtyrer.

Bis Ende des vergangenen Jahres war Li ein ganz gewöhnlicher Mann. Medienberichten zufolge stammt er aus der nordöstlichen Provinz Liaoning, hatte in Wuhan Medizin studiert, wo er später auch praktizierte. 33 Jahre alt, verheiratet, ein Kind, seine Frau ist erneut schwanger. Ein Freund des guten Essens soll er gewesen sein - Orangen, Sashimi, Eiscreme. Ab und zu soll der passionierte Badmintonspieler über die Arbeitsbelastung geklagt haben, doch als vorlaut war er unter seinen Kollegen im Zentralkrankenhaus nicht bekannt.

Vom Obersten Volksgerichtshof rehabilitiert

Das änderte sich, nachdem er am 30. Dezember 2019 eine Nachricht in einer WeChat-Gruppe gepostet hatte, in der er sich mit sieben ehemaligen Kommilitonen austauschte. In seinem Krankenhaus stünden mehrere Patienten unter Quarantäne, "sieben Fälle von Sars bestätigt", schrieb er. Heute weiß man, dass es sich um Coronavirus-Infizierte handelte, die Symptome ähneln jener der Lungenkrankheit Sars. Li bat seine Kollegen, vorsichtig zu sein und sich zu schützen. Ein Screenshot der Unterhaltung fand den Weg ins Internet. Bald trendete auf Weibo das Hashtag #WuhanSars, bevor die Zensur das unterband.

Am gleichen Tag sprach auch die lokale Gesundheitsbehörde in einer internen Handreichung von einer "Lungenkrankheit unbekannten Ursprungs", die sich in Wuhan ausbreite - und verhängte eine Schweigepflicht. Wichtige politische Treffen standen an, die Stadtregierung wollte sich wohl nicht nachsagen lassen, sie habe die Volksgesundheit nicht im Griff. Die Polizei bestellte die Mitglieder aus Lis Chatgruppe ein und rügte sie wegen der "Verbreitung von Gerüchten". Eine Unterlassungserklärung trägt Lis Fingerabdruck in roter Tinte. "Wir warnen Sie ernsthaft: Wenn Sie nicht lockerlassen, impertinent bleiben und sich weiterhin an illegalen Aktivitäten beteiligen, wird das Gesetz Sie bestrafen", ließ die Polizei ihn wissen.

Am Freitagmorgen standen die offiziellen Zahlen bei landesweit 31.161 Infizierten und 636 Toten. Was für ein Signal sendet es in ein ohnehin beunruhigtes Land, wenn die Ärzte nicht einmal ihren verehrten Kollegen retten können, die Lichtgestalt dieser dunklen Tage? Nicht nur auf dem Krankenhauspersonal muss ein ungeheurer Druck gelastet haben, sondern auch auf jenen, die die Coronavirus-Krise auf politischer Ebene meistern müssen.

Womöglich ist das der Hintergrund für das Verwirrspiel der vergangenen Nacht. Erste Social-Media-Nutzer wollten gegen 21.45 Uhr von Lis Tod erfahren haben, eine Stunde später folgte die Bestätigung durch die Staatszeitung "Global Times", die mit eigenen Reportern vor Ort war - doch ihre Meldung später wieder löschte. Um 0.38 Uhr gab das Zentralkrankenhaus auf Weibo bekannt, man kämpfe noch. Innerhalb kurzer Zeit sammelte der Post 2,5 Millionen Likes und 800.000 Kommentare, selbst im Riesenland China eine ungeheure Zahl.

"Eine gesunde Gesellschaft sollte mehr als eine Stimme akzeptieren"

Tief in der Nacht fieberte die halbe Nation mit. "Wir müssen heute nicht schlafen, nur Li Wenliang muss aufstehen", schrieb ein Nutzer, als die Hoffnung gerade wiederauflebte. "Wenn ihr ihm keine Gerechtigkeit geben könnt, gebt ihm wenigstens Würde", schrieb ein anderer, als die Hoffnung wieder sank. Später, als die offizielle Todesnachricht immer noch auf sich warten ließ, schrieb ein dritter: "Gestern werfen sie dir vor, Gerüchte zu verbreiten, heute verbreiten sie Gerüchte über dich."

Am Morgen danach herrscht Trauer, aber auch eine diffuse Verärgerung. Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei misst dieser Stimmungslage offenbar ausreichend große Bedeutung zu, dass es ein Team von Ermittlern nach Wuhan entsandt hat. Die Aufgabe: "Eine umfassende Untersuchung der von den Massen berichteten Gegebenheiten betreffend Dr. Li Wenliang", wie es verschwurbelt in der offiziellen Mitteilung heißt. Einfacher ausgedrückt: Die Pekinger Führung will klären, wer für Lis Tod politisch verantwortlich ist.

Wenige Tage vor seinem Tod hat Li gegen gelenkte Wahrheiten plädiert. Er halte nichts davon, wenn die Behörden übermäßig in die öffentliche Debatte eingriffen, sagte er "Caixin". Und fügte hinzu: "Eine gesunde Gesellschaft sollte mehr als eine Stimme akzeptieren."