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Tausende Covid-19-Opfer in Italien Einsamer Tod

Angehörige dürfen nicht ins Krankenhaus, nicht zur Beerdigung, vor den Krematorien stauen sich die Särge. In Norditalien werden die Verheerungen durch Corona zum Trauma für Hinterbliebene. Betroffene erzählen.
Behelfs-Intensivstation einer Klinik in Bergamo: "Es gibt keine würdige Beerdigung"

Behelfs-Intensivstation einer Klinik in Bergamo: "Es gibt keine würdige Beerdigung"

Foto: Carlo Cozzoli/ IPA/ ddp images

Mehr als 4000 Menschen sind in Italien schon an Covid-19 gestorben. In Bergamo, der am härtesten betroffenen Stadt, arbeitet das Krematorium rund um die Uhr. Trotzdem musste die Armee Dutzende von Särgen zur Einäscherung in andere Städte bringen. An manchen Orten findet eine Beisetzung nach der anderen statt, Priester erteilen kurz ihren Segen, dann kommt der nächste dran.

Konventionelle Trauerfeiern hat die Regierung verboten. Mitunter überwacht der Zivilschutz auf Friedhöfen, dass sich Angehörige während der Beerdigung nicht zu nahe kommen oder gar umarmen. Meistens können sie ohnehin nicht am Begräbnis teilnehmen, weil sie zu Hause unter Quarantäne stehen. In fünf Protokollen erzählen Verwandte, ein Priester und ein Bestatter, wie sie den Ausnahmezustand erleben.

"Jeder hier hat Freunde und Verwandte, die an Covid-19 gestorben sind"

Michela Zanchi, 34 Jahre, hat ihren Onkel durch das Coronavirus verloren. Sie lebt in Zogno, einem Dorf bei Bergamo. Sechs bis sieben Menschen sterben in dem 9000-Einwohner-Ort jeden Tag. In normalen Zeiten wird für jeden Verstorbenen die Kirchenglocke im Ort geläutet. Der örtliche Priester ist angesichts der vielen Toten dazu übergegangen, die Glocken nur noch einmal am Tag zu läuten. 

Jeder hier hat Freunde und Verwandte, die an Covid-19 gestorben sind. Ich auch. Nun ist mein Onkel Angelo Lazzarini tot. Er zählte mit seinen 80 Jahren zur Risikogruppe. Man sitzt zu Hause, während die Liebsten wegsterben. Wir konnten meinem Onkel nicht beistehen, ihn nicht besuchen. Einmal am Tag rief ein Arzt aus der Klinik bei uns an. Kurz bevor mein Onkel starb, hatte der Arzt eigentlich gute Nachrichten verkündet: Er sagte, Angelo könne wieder ohne Beatmungsgerät atmen. Einen Tag später war er dann tot.  

In Bergamo half das Militär, die Toten vom örtlichen Friedhof auf Nachbarprovinzen zu verteilen

In Bergamo half das Militär, die Toten vom örtlichen Friedhof auf Nachbarprovinzen zu verteilen

Foto: Sergio Agazzi.Fotogramma/ REUTERS

In Bergamo ist das Krematorium überlastet. Mein Onkel wurde 200 Kilometer entfernt, in Padua, eingeäschert. Das ist Wahnsinn. Als der beste Freund meines Cousins starb, wurde er sogar bis nach Turin ins Krematorium gebracht.  

Die Asche der Toten wird dann zurück nach Hause transportiert. Dort werden die Überreste beigesetzt, es dürfen nur die engsten Verwandten dabei sein während ein Priester den letzten Segen spricht. Es gibt keine würdige Beerdigung, keinen Trauerzug. 

Die Katastrophe hört nicht auf: Seit einer Woche hat meine Mutter hohes Fieber. Nun kamen auch noch ein starker Husten und Atemnot hinzu. Wir riefen den ambulanten Corona-Notdienst. Die Ärzte sagten meiner Mutter, sie müsse zu Hause im Bett bleiben, im Krankenhaus gebe es kein freies Bett für sie. Sie ließen ihr ein Sauerstoffgerät und Tabletten da und verordneten absolute Isolation von der Familie. Ich lebe zwei Kilometer entfernt, doch ich kann nicht zu ihr. Wir wissen nicht mal mit Gewissheit, ob meine Mutter Corona-positiv ist, denn sie wurde nicht getestet. Hier werden nur noch die ganz krassen Notfälle getestet.  

Es gibt nichts mehr in den Apotheken, keine Schutzmasken, keine Handschuhe, keinen Alkohol zum Desinfizieren. Den ganzen Tag heulen hier im Ort die Sirenen der Krankenwagen. Drei der fünf Hausärzte im Ort sind selbst mit dem Coronavirus infiziert. Deshalb sind jetzt Ärzte vom Militär zur Unterstützung gekommen. Die Kirchengemeinde veröffentlicht täglich die Namen der Toten auf ihrer Facebookseite. 

"In ihren letzten Stunden können sie niemandem ins Gesicht schauen. Alle sind maskiert"

Monsignore Giulio Dellavite ist Generalsekretär des Bistums Bergamo. 16 Priester in seiner Diözese sind seit dem 1. März bereits an Corona gestorben, 20 weitere liegen im Krankenhaus. Die Überlebenden und Gesunden haben alle Hände voll zu tun, die Sterbenden und ihre Angehörigen zu betreuen, unter schwierigsten Bedingungen. Schon seit Wochen versucht Dellavite, den Tod in seinen Gemeinden irgendwie zu verwalten.

Wir haben ein gewaltiges Problem mit den Sterbenden. Sie sind im Krankenhaus isoliert und off limits. Unsere Priester dürfen sie nicht besuchen. Und die Angehörigen zu Hause stehen unter Quarantäne, da können unsere Seelsorger nur in Schutzkleidung hin. Diese Vorsicht ist eine Geste brüderlicher Liebe: Unsere Priester könnten sich anstecken oder unwissentlich selbst das Virus verbreiten.

Aber sie können nicht überall sein. Auch Kinder und Enkel dürfen deshalb ihren kranken Eltern und Großeltern, solange sie noch zu Hause sind, den Segen erteilen. So hat es unser Bischof vorgeschlagen.

Wenn jemand zu Hause stirbt, kann ein Pfarrer theoretisch mit Schutzmaske und Handschuhen die letzte Ölung geben. Aber das gibt es nur noch sehr selten.

Und im Krankenhaus? Die Sterbenden sehen nur Ärzte und Pfleger in Schutzanzügen. In ihren letzten Stunden können sie niemandem in die Augen und ins Gesicht schauen, alle sind komplett maskiert. Telefonieren geht in der Intensivstation auch nicht. Es ist ein großes Leid.

Ärzte haben uns mit Tränen in den Augen erzählt, wie Todkranke sie um ihren Segen bitten, weil sonst ja niemand zu ihnen darf. Jetzt müssen sie und die Krankenschwestern sie nicht nur medizinisch betreuen und pflegen, sondern auch noch segnen. Der Herr nutzt alle Hände, wenn es nötig ist.

In den Familien läuft es oft so: Jemand wird krank, die Angehörigen rufen das Rote Kreuz an, und dann wird der Patient von der Ambulanz abgeholt. Die Angehörigen erfahren oft nicht, in welchem Krankenhaus ihr Vater oder ihre Mutter gelandet ist. Irgendwann kommt dann ein Anruf mit der Todesnachricht und der Information, dass der versiegelte Sarg in dieses oder jenes Leichenhaus geliefert werde. Oder wo der Verstorbene bereits beerdigt wurde. Nicht einmal tot kann man seine Mutter oder seinen Vater sehen. Sie verschwinden einfach. Es ist schrecklich. Wir haben deshalb im Bistum eine Telefonhotline eingerichtet, in der 70 Priester, Schwestern, Laien und Psychologen Trost und Unterstützung geben.

Auf dem Friedhof können unsere Priester am Grab nur den Sarg oder die Urne segnen und kurz mit Angehörigen beten - falls überhaupt welche dabei sind. Wenn jemand am Coronavirus stirbt, steht oft die ganze Familie unter Quarantäne. Dann kann niemand von den Verwandten an der Beerdigung teilnehmen.

"Für die Familien ist es grausam, dass sie einen geliebten Menschen nicht verabschieden können" 

Am 4. März rief Giuseppe Acerboni, der im Bergdorf Vendrogno nahe des Comer Sees lebte, seinen Hausarzt an. Er habe seit Tagen hohes Fieber, sagte er dem Arzt. Und dass er einen Test auf Covid-19 machen wolle. Er wurde ins Krankenhaus nach Gravedona verlegt. Eine Woche später war er tot. Er wurde 84 Jahre alt. Acerbonis Neffe Fabio Landrini berichtet, wie schwer ihm der Abschied von seinem Onkel fällt, gerade, weil sich die Familie nicht richtig von ihm verabschieden konnte.

Für mich ist das Coronavirus die Krankheit der Einsamkeit. Solange mein Onkel noch zu Hause war, haben wir ihm jeden Tag Essen ans Krankenbett gebracht. Wir haben ihn noch einmal gesehen, bevor er ins Krankenhaus verlegt wurde. Danach nicht mehr. Er starb ganz allein. Am meisten schmerzt mich, dass wir nicht zu seinem Leichnam vorgelassen wurden. Dass es uns nicht gestattet war, meinen Onkel angemessen zu verabschieden. Er wurde eingeäschert. Ohne Beerdigung. Er hat lediglich den letzten Segen erhalten.  

Provisorisches Leichenlager in Bergamo: "Das Krematorium ist überfüllt"

Provisorisches Leichenlager in Bergamo: "Das Krematorium ist überfüllt"

Foto: TIZIANO MANZONI/EPA-EFE/Shutterstock

Für die Angehörigen ist das schwer zu akzeptieren. Ich verstehe, dass die Ärzte keine Zeit haben für die individuellen Schicksale, sie arbeiten Tag und Nacht. Aber für die Familien ist es grausam, dass sie einen geliebten Menschen nicht mehr sehen oder verabschieden können. Wir wissen nicht mal genau, an welchem Tag mein Onkel eingeäschert wurde. Wahrscheinlich am Mittwoch, aber genaue Informationen erhalten die Familien in diesem Ausnahmezustand nicht. 

"In einer Woche so viele Leichen wie sonst im ganzen Jahr"

Vittorio Natangeli ist Bestattungsunternehmer in Rom. Er verfolgt besorgt, was seine Kollegen in Norditalien durchmachen. Aber auch sein Alltag hat sich schon dramatisch verändert.

Trauerfeiern wie früher sind verboten. Den Leichnam aufbahren, zur Messe gehen, dann auf den Friedhof - seit über drei Wochen ist das nicht mehr möglich. Die Behörden machen unseren Bestattern genaue Vorgaben, bevor wir einen Leichnam auf den Friedhof bringen können.

Zur Beerdigung fahren wir mit dem Leichenwagen jetzt immer direkt zur Leichenhalle, von dort bringen wir den Sarg ohne Zeremonie direkt zum Grab, maximal begleitet von zwei oder drei Verwandten. Wenn wir den Sarg ins Grab gelassen haben, fahren wir sofort wieder davon. Die Friedhöfe in ganz Italien sind übrigens geschlossen, Angehörige dürfen ihre Familiengräber auch nach der Beisetzung nicht besuchen.

In Rom gibt es, anders als in Norditalien, bisher nur wenige Corona-Tote. Wir haben bislang zwei verstorbene Covid-19-Patienten aus dem Krankenhaus abgeholt. Die haben uns die Leichen in einem Leichentuch oder einem Behälter aus biologisch abbaubaren Material übergeben. Ein oder zwei Verwandte haben dort im Krankenhaus noch ein Gebet gesprochen, und dann sind wir losgefahren. Wer vermutlich an Covid-19 gestorben ist, muss in Rom zur Gerichtsmedizin gebracht werden, um die genaue Todesursache zu klären. Wenn dort der Leichnam freigegeben ist, geht es zum Friedhof.

Inzwischen haben mich Kollegen aus dem Norden angerufen und gefragt, ob wir Leichenwagen und Fahrer zur Verfügung stellen können. Sie haben es dort natürlich sehr viel schwerer. In manchen Orten haben sie in einer Woche so viele Leichen wie normalerweise im ganzen Jahr.

"Er starb einsam, und er wird einsam begraben" 

Fabio Fancoli starb vor einigen Tagen am Coronavirus, mit 62 Jahren. Er lebte in der Kleinstadt Sondrio in der Lombardei und arbeitete sein Leben lang beim Landwirtschaftsverband Coldiretti. Sein Kollege und Freund Domenico Incondi erinnert sich an das letzte Telefonat mit ihm.  

Wir arbeiteten 35 Jahre gemeinsam bei Coldiretti, und natürlich haben wir uns in dieser langen Zeit angefreundet. Wir teilten so viele Tage und Erlebnisse. Fabio war ein guter Mensch. Er hat mir vieles beigebracht. Wir waren oft gemeinsam Skifahren oder Tennisspielen.  

Einen Tag bevor Fabio ins Krankenhaus kam, habe ich noch einmal mit ihm telefoniert. Danach habe ich nichts mehr von ihm gehört. So ist das leider mit dem Coronavirus: Sobald eine infizierte Person ins Krankenhaus eingeliefert wird, darf man sie nicht mehr besuchen. Nicht mal, wenn sie stirbt. Das ist die Realität in Italien gerade, sie ist fürchterlich für alle. Fabio starb im Krankenhaus in Sondalo. Zehn Tage war er dort, ganz allein. Es wird auch keine Beerdigung für ihn geben. Am Samstag wird er beigesetzt. Er starb einsam, und er wird einsam begraben.

 

Mitarbeit: Alessandro Puglia