Anzeige

Besuch in einem Flüchtlingslager Das ist Gülara. Er will rein nach Europa. Aber niemand macht ihm auf

Am Morgen nach dem Leichenmahl. Gülara steht hinten rechts.
Am Morgen nach dem Leichenmahl. Gülara steht hinten rechts.
© Nikos Pilos / stern
In den Flüchtlingslagern Griechenlands hocken tausende Menschen. Der stern war im "Hotspot Moria", dem größten Lager der Ägäis. Eine Geschichte von Gülara und seinem Vater, von Hoffnung und dem Vergessen.
Von Raphael Geiger

Draußen im Matsch steht ein junger Mann und bittet um Einlass. Gülara, das heißt so viel wie: Der eine Rose sucht. Gülara, 25, ist auf der Suche, eine ganze Weile schon, nur gefunden hat er bisher nicht viel.

Er will rein, nach Europa, aber niemand macht ihm auf.

Gerade ist wieder so ein Moment, ein kalter Tag, die Sonne ist schon weg hinter den Hügeln, es fängt an zu regnen, Gülaras nackte Füße stecken in Badeschlappen und der Wind kriecht in seinen Parka. Er verschwindet in dem Kleidungsstück, er zieht sich die Kapuze so weit übers Gesicht wie er kann, es ist gerade: alles falsch.

"Was mache ich hier?", fragt Gülara. "Warum bin ich hier?"

Er hätte, vielleicht, nie kommen sollen, ja, wahrscheinlich, es begann mit Angst und einer vagen Hoffnung, dazu kamen die Lügen der Schlepper, er hörte sie gern. "Afghanistan ist besser", sagt Gülara jetzt, er hat keine Lust mehr auf etwas anderes als die Wahrheit.

Nach zwei, drei Tagen könne er nach Athen

Zwei, drei Tage, sagten die Schlepper in der Türkei, so lange werde es nur dauern auf Lesbos, dann könne er schon weiter nach Athen, er, Gülara, und seine Familie und alle anderen auf dem Schlauchboot. Und dann, inshallah, so Gott will, weiter nach Europa, ins richtige Europa, von dem sie immer geträumt hatten. Deutschland. Ja, sagten die Schlepper, es sei möglich, nur noch ein kleiner Schritt, nur eine Frage der Zeit.

Gülara zieht die Nase hoch, er hat Schnupfen, er schaut in die Ferne, aufs Meer, er kann die türkische Küste erkennen, er schaut nach unten, in den Matsch, und er hat null Ausdruck im Gesicht.

Er ringt mit sich, mit der Scham. Dass dies hier jetzt sein Zuhause ist, diese Ansammlung von Campingzelten auf einem Hügel voller Olivenbäume, sie nennen es den Dschungel. Er ahnt, was man in ihm jetzt sieht: Einen Flüchtling, einen von Tausenden, von Millionen, kein einzelner Mensch mehr, sondern einer aus einer Masse, eine Zahl nur noch.

Von der Kälte Europas: Bericht aus einem Flüchtlingslager auf Lesbos, Griechenland
Ein temporäres Camp neben dem Containterdorf von Moria
© Nikos Pilos

Er verdrängt, das muss er, hat zu viel gesehen auf der Reise von Afghanistan hierher, könnte das hier sonst gar nicht aushalten.

Er trauert. Als sie loszogen, da lebte sein Vater noch, auch als sie aufs Boot stiegen, da war der Vater noch mit dabei.

Viele, viele Artikel sind geschrieben worden über Menschen wie ihn, Gülara. Seit Jahren sind Flüchtlinge unterwegs auf Schlauchbooten auf dem Mittelmeer, mal sind es mehr, und deutsche Politiker sprechen von einer "Lawine", mal sind es weniger, dann sind alle froh. Noch ein Text über Flüchtlinge, jetzt, Anfang 2019?

In Moria schreit einem die Wahrheit ins Gesicht

Ein paar Stunden bevor wir Gülara treffen, parken wir unseren Wagen an diesem, dem größten Lager der Ägäis, dem "Hotspot Moria".

Auch wenn man als Reporter in vielen Flüchtlingslagern war, im Nordirak, in der Türkei, in der syrischen Wüste, weit weg von jeder Versorgung, wenn man also eigentlich weiß, was auf einen zukommt, haut es einen doch wieder um.

Reportage Lesbos Leichenmahl Afghanen
Die Afghanen bereiten das Leichenmahl zu
© Nikos Pilos / stern

Es ist konkret. Es ist nicht tausendmal gesehen und gelesen, es geschieht in diesem Moment. An diesem kalten Tag unserer Recherche, und auch heute, wenn dieser Text erscheint.

Tausendfache Entmenschlichung, vielleicht ist es das. Tausende auf einem Fleck, denen es nicht mehr um ihre Würde geht, sondern ums Überleben. Die einen reißen sich spürbar zusammen. Andere sind überdreht laut, viele haben diesen Blick, der fragt: Was mache ich hier? Und warum?

Wie Gülara.

In Moria schreit einem die Wahrheit ins Gesicht, jeder kennt sie: Die Flüchtlinge sollen im Matsch leben und frieren im Winter, sie sollen leiden, es ist so gewollt, es dient der: Abschreckung.

Damit die Flüchtlinge über WhatsApp nach Hause schreiben: Kommt nicht, die Schlepper lügen, Europa ist furchtbar.

Damit die Flüchtlingszahlen nicht wieder steigen.

Gülaras Geschichte vom Wahnsinn der Reise

Ein junger Kameruner erfror, seine Freunde fanden ihn morgens um zwei reglos in seinem Zelt. Und nicht lange vorher hörte in einem anderen Zelt, keine hundert Meter entfernt, ein alter Afghane nicht mehr auf zu husten.

Von der Kälte Europas: Bericht aus einem Flüchtlingslager auf Lesbos, Griechenland
Unterwegs für den stern: Reporter Raphael Geiger (l.) und Fotograf Nikos Pilos
© Nikos Pilos

An diesem Abend kochen sie das Leichenmahl für ihn, Gülara und sein Bruder. Gülara zieht die Plane zur Seite, die sie um ein Eck gespannt haben, so ist ein windgeschützter Hof vor dem Zelt entstanden. Der Bruder hat schon Feuer gemacht, es ist Zeit für Kabuli Pilaw.

Basmatireis mit Lammfleisch, Möhren, Mandeln und Rosinen, gewürzt mit Kardamom. So viel davon, dass es für eine Festgesellschaft reicht. Sie haben eine riesige Pfanne aufgetrieben und Holz von den Olivenbäumen. Mit dem Geld, das ihnen geblieben ist, 75 Euro, haben sie ein Lamm gekauft und geschlachtet. Jetzt stehen sie hier, zwei Brüder aus Kunduz, rühren in der Pfanne, legen Holz nach, und Gülara wirft ein paar Sätze in die rauchige Luft.  

"Vater war alt, er war 70." "Vater hat immer nur gehustet, die ganze Reise lang." "Vater hat Herzprobleme, aber keiner wollte ihn behandeln." "Vater hat’s nicht geschafft." Er liege jetzt auf dem muslimischen Friedhof, den die Gemeinde Lesbos für Flüchtlinge eingerichtet hat.

Reportage Lesbos Hütte
Hütte in Moria
© Nikos Pilos / stern

Sein Tod kam sieben Monate, nachdem die Familie übers Meer kam, fast ein Jahr, nachdem sie aufgebrochen waren in Kunduz, dieser Stadt im Norden von Afghanistan, den die deutsche Bundeswehr einmal befrieden wollte.

Während das Kabuli Pilaw kocht, "mindestens drei Stunden lang, das ist wichtig", erzählt Gülara vom Wahnsinn der Reise. Von dem Schrecken, den er sonst verdrängt, verschweigt.

"Vater war Polizist", sagt er, " einer meiner Brüder auch". Die Bundeswehr zog ab aus Kunduz, die Deutschen waren froh, aus diesem Krieg raus zu sein, den sie nie wollten. "Die Deutschen waren kaum weg", sagt Gülara, "da kamen die Taliban." Pause. "Meinen Bruder, den Polizisten, haben sie umgebracht."

Drei Generationen auf der Flucht

Gülaras Vater war ebenso in Gefahr, sie beeilten sich, drei Generationen: die Großeltern, Gülara mit Frau und zwei Kindern, sein Bruder mit Frau und drei Kindern. Von Kunduz aus nach Westen, erst mit dem Bus, Richtung Iran, zu Fuß über die Grenze, sie schlugen sich durchs Land, immer nach Westen. Der Weg in die Türkei führte durch abgelegenes, gesetzloses Gebiet, sie mussten zahlen, wenn sie vorbei wollten an korrupten Soldaten oder Kriminellen, und manchmal kamen sie an einer Leiche vorbei. Jemand, der nicht zahlen konnte, erschossen, liegen gelassen.

Man hört Gülara zu und versteht auf einmal wieder, was das heißt: Flucht. Als Mensch eine Ware zu sein, vogelfrei und völlig bedeutungslos: Bloß ein weiterer Afghane auf der Flucht, dessen Tod niemanden interessieren würde.

Falscher Pass.

Von der Kälte Europas: Bericht aus einem Flüchtlingslager auf Lesbos, Griechenland
Parouana, 9, und Fatime, 10, leben erst seit Kurzem in Moria 
© Nikos Pilos

Gülaras Vater setzte die Kälte zu, die Fußmärsche durchs Gebirge, sein Herz raste, der Husten wurde schlimmer. Er hielt durch, auch die Überfahrt auf dem Boot, auch die ersten Monate in Moria.

Sie siedelten sich im afghanischen Teil des Dschungels an, bauten sich ein Zelt aus Planen des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen, sie hielten es sauber, stellten ihre Schuhe draußen ab, fegten drinnen den Staub. Gülara merkte, dass sie länger bleiben würden als ein paar Tage. Ihre Nachbarn hatten kleine Gemüsebeete vor ihren Zelten angelegt, andere hatten aus Paletten einen Tisch und zwei Bänke gebaut, wieder andere den Boden so dicht mit Planen und Karton ausgelegt, das man zwischen den Zelten barfuß gehen konnte.

Die Nächte wurden kälter

Sie machten sich das Warten erträglich. Die einen hatten in Griechenland Asyl beantragt, damit nahmen sie sich die Chance auf Nordeuropa, aber sie bekamen so zumindest einen Termin beim Amt, ein Datum, auch wenn es meistens über ein Jahr entfernt war.

Die anderen machten sich noch Hoffnung, dass sie irgendeinen Weg finden würden.

Die Nächte wurden kälter, es wurde Herbst, es wurde Winter. Dann kam ein Krankenwagen und brachte Gülaras Vater in die Klinik, aus der er nicht mehr zurückkehrte. Jetzt, während die Brüder an der Pfanne stehen, beten ein paar Männer im Zelt für den Verstorbenen, 3691 Kilometer westlich von Kunduz.

In Europa, und doch nicht in Europa.

Von der Kälte Europas: Bericht aus einem Flüchtlingslager auf Lesbos, Griechenland
Das eigentliche Moria ist ein eingezäuntes Lager aus Containern
© Nikos Pilos

Sie sind als Menschen gegangen. Und sind in Moria zu Flüchtlingen geworden.

Das eigentliche Moria ist ein eingezäuntes Lager aus Containern, dazu kommt der Dschungel, in dem Gülara lebt. Gedacht ist Moria für 3000 Menschen, vergangenes Jahr waren es bis zu 13.000.

Draußen stehen griechische Polizisten, drinnen brennt manchmal die Luft, wenn Sunniten und Schiiten aufeinander losgehen, es treffen sich Männer, die im Syrienkrieg auf verschiedenen Seiten kämpften. Die griechischen Polizisten halten sich dann lieber raus.

Abends bereiten sich viele ihr Essen zu. Den Hang hinunter stehen gerade ein paar Männer aus Afrika um ein Feuer, sie kommen aus Kamerun, aus Liberia, aus Nigeria, sie braten Pommes Frites, ein Syrer steht neben ihnen und wärmt sich. Ein paar Meter weiter kauert ein Somali in seinem Zelt und isst weiße Bohnen, und nicht weit davon hat sich eine Familie aus dem Irak beim Tee versammelt.

Es gibt die, die einfach ein besseres Leben suchen, aber die meisten haben andere Gründe. Der Somali war als illegaler Arbeiter in der Türkei, der Absturz der türkischen Lira im Sommer hat ihn vertrieben. Einer der Kameruner floh vor dem Militärdienst, weil er dem despotischen Präsidenten nicht dienen wollte. Bei Gülara war es der Abzug der Bundeswehr aus Kunduz.

Von der Kälte Europas: Bericht aus einem Flüchtlingslager auf Lesbos, Griechenland
Von links: Nouroul, 26, Fatima, 20, und Mohamed, 3, leben seit etwa zehn Monaten in Moria
© Nikos Pilos

Sie sind als Menschen gegangen und in Moria zu Flüchtlingen geworden. Sie bilden die Zahl, die europäische Regierungen genau verfolgen, die Zahl darf nicht steigen, sonst nützt es den Populisten. Sie sind die Masse, die viele in Europa als bedrohlich empfinden, zumindest aber als Problem.

Vergangenen Winter sind neun Menschen erfroren in diesem Flüchtlingslager auf europäischem Boden.

Um kurz nach sieben bittet Gülaras Bruder ein paar Jungen um Hilfe, sie organisieren Plastikteller. Gemeinsam schichten sie das Kabuli Pilaw auf die Teller, es dampft, es duftet, und Gülara achtet darauf, dass auf jedem Teller ein Stück Lammfleisch liegt.

Sie servieren es den Männern, die zu Ende gebetet haben, und den Frauen nebenan, dann setzen sie sich dazu. Ein afghanisches Leichenmahl auf einer griechischen Insel, von der sie nie zuvor gehört hatten, 1797 Kilometer südlich von Berlin. 

Als am nächsten Morgen die Sonne aufgeht, sagt Gülara, es sei ein schöner Abend gewesen.

Stern Logo

Mehr zum Thema

Newsticker

VG-Wort Pixel