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WELT am SONNTAG

Schatten aus dem Dritten Reich

Allianz-Vorstands-Chef Henning Schulte-Noelle und der US-Historiker Gerald D. Feldman im WELT am SONNTAG-Interview

WELT am SONNTAG:

Herr Schulte-Noelle, der Historiker Gerald D. Feldman von der Berkeley-Universität hat die Geschichte der Allianz in den Jahren von 1933 bis 1945 erforscht. Hat die Allianz nun eine weiße Weste?

Henning Schulte-Noelle: Ein solches Ergebnis hätte sicher nicht nur uns irritiert. Und es war auch nicht das Ziel. Wir haben uns eine unabhängige, ehrliche und schonungslose Analyse unserer Vergangenheit in der NS-Zeit gewünscht. Und die haben wir bekommen.

WamS: Der Allianz wird vorgeworfen, sie habe für die Versicherungen von Konzentrationslagern sogar Mengenrabatte eingeräumt. Hat die Allianz am Holocaust verdient?

Gerald D. Feldman: Die Konzentrationslager selbst waren nicht versichert, denn sie wurden wie Staatsbesitz behandelt und deshalb prinzipiell nicht versichert. Was hingegen versichert wurde, waren die privatwirtschaftlich organisierten Wirtschaftsbetriebe der SS auf dem Gelände von Konzentrationslagern. Fabriken der SS gab es auf dem Gelände fast aller Konzentrationslager. Für die Allianz und die anderen Versicherer dieser Betriebe fiel bei diesen Policen ein Gewinn ab wie bei jedem anderen Versicherungsvertrag mit einem Industrieunternehmen auch.

WamS: Die Allianz hat also Betriebe auf KZ-Geländen mitversichert und war damit Mitwisser. Hat das Unternehmen auch eine Mitschuld auf sich geladen?

Schulte-Noelle: Die Allianz hat auch im Dritten Reich versucht, ihren Geschäften nachzugehen. Nach meinem ersten Eindruck war die Allianz in ihrem Geschäftsverhalten zwar nicht unbedingt antisemitisch, auch sicher kein überzeugter Partner der Machthaber, aber sie hat das Regime auch nicht bekämpft. Es gab bereits vor 1933 bewusst gesuchte Kontakte zu Göring, und insbesondere in den späteren Jahren müssen wir uns angepasstes, opportunistisches Verhalten vorwerfen lassen.

WamS: Da fällt vor allem der langjährige Generaldirektor der Allianz, Kurt Schmitt, auf, der von 1933 bis 1935 Reichswirtschaftsminister war und sich besonders gern in SS-Uniform fotografieren ließ.

Feldman: Sein Beispiel wurde für andere zu einem Signal. Er wurde dann Reichswirtschaftsminister, und sowohl er als auch Eduard Hilgard, der Leiter der Reichsgruppe Versicherung wurde, gaben sich dem Regime gegenüber offen. Je mehr man sich auf das Regime einließ und je radikaler dessen Politik wurde, desto enger verstrickten sich auch die Allianz und ihre Mitarbeiter. Es erschien alles als gewöhnliches Geschäft, und irgendwann ist das abnormale Geschäft normal geworden.

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Schulte-Noelle: Als größtes Unternehmen im Markt konnte man sich nicht verstecken, wenn man diese Position halten wollte. Nach meinem Eindruck haben wir uns damals zu intensiv mit einer drohenden Verstaatlichung der Versicherungswirtschaft beschäftigt und zu wenig mit den notwendigen moralischen Wertmaßstäben. Es gab zu wenige Menschen und Institutionen, die sich damals richtig verhalten haben. Das ist das Maß der Verstrickung, mit der unser Land Schuld auf sich geladen hat - und auch dieses Unternehmen.

WamS: Professor Feldman hat seine Studie den jüdischen Mitarbeitern der Allianz gewidmet. Was empfinden Sie dabei?

Schulte-Noelle: Diese Widmung hat mich beeindruckt, und ich bin Professor Feldman dankbar dafür. Gerade hier, im Umgang mit den eigenen jüdischen Mitarbeitern, zeigt sich der Charakter eines Unternehmens manchmal deutlicher als anderswo. Im Buch habe ich erfahren, dass es zumindest keine systematische Kampagne gegen jüdische Mitarbeiter und Kunden gab. Es gibt Beispiele, in denen die Allianz sich anständig gegenüber ihren jüdischen Mitarbeitern verhalten hat, ihnen beispielsweise zur rettenden Flucht ins Ausland verholfen hat. Aber es gibt auch Schicksale wie das von James Freudenburg, einem hochverdienten Direktor, der 1934 zurücktreten musste und 1942 im KZ ermordet wurde. Das sind Schicksale, die einen aufrütteln, wenn man das Buch liest.

WamS: Noch im Jubiläumsbildband von 1990 stellt sich die Allianz als Opfer des NS-Systems dar. Warum nun dieser Sinneswandel?

Schulte-Noelle: Das ist ein Prozess der Bewusstseinswerdung gewesen - auch bedingt durch den Generationswechsel. Wir sind uns selbst darüber klar geworden, dass die Zeit von 1933 bis 1945 nicht mit der nötigen Tiefenanalyse abgedeckt worden war, dass es da noch etwas nachzuarbeiten galt.

WamS: Wie haben Sie persönlich diesen Generationswechsel erlebt?

Schulte-Noelle: Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich immer wieder versucht habe, mit meinen Eltern über diese Zeit zu debattieren. Ihr Reflex war: "Wir möchten darüber nicht diskutieren, wir möchten es hinter uns lassen und uns darauf konzentrieren, unser Leben wieder normal einzurichten." Ich glaube, dass man in unserer Generation eine Distanz zu den Vorgängen hat und sich nicht die persönliche Frage stellen muss: "Wie hast du dich in der Zeit von 1933 bis 1945 verhalten?" Das ermöglicht uns einen anderen Einstieg in diese Thematik.

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WamS: War es aber nicht auch eine ökonomische Überlegung? Als die Sammelklagen gegen die Allianz eingingen, stürzte der Aktienkurs ab.

Schulte-Noelle: Der Entschluss der Aufarbeitung lag klar vor den ersten Sammelklagen. Die kamen 1997. Aber schon 1996 haben wir gesagt, dass wir das Archiv aufarbeiten und die Studie erstellen lassen wollen. Mitte April 1997 wusste ich noch nicht, wie viele Lebensversicherungsakten es gab. Die Tatsache, dass wir mit Klagen überzogen wurden, hat die Dringlichkeit natürlich noch erhöht, aber das war nicht der Anlass, unsere Geschichte aufzuarbeiten.

WamS: Aber das gefährdete Ansehen im Ausland konnten Sie doch nicht außer Acht lassen?

Schulte-Noelle: Die Geschichte mit den Klagen hat uns seinerzeit völlig überrascht. Wir dachten, dass diese Fragen mit dem Bundesentschädigungsgesetz abgeschlossen waren.

WamS: Professor Feldman, haben Sie noch nicht ausbezahlte jüdische Versicherungspolicen gefunden?

Feldman: Es ist höchst unwahrscheinlich, dass es noch viele solcher Policen gibt, die nicht auf irgendeine Art und Weise ausgezahlt worden sind.

Schulte-Noelle: Aber Professor Feldman, was halten Sie denn vor diesem Hintergrund von dem Vorwurf, dass sich die Versicherungen bereichert haben?

Feldman: Nein, das macht einfach keinen Sinn. Man hat im Krieg in verschiedenen Arten von Versicherungen Gewinne gemacht, aber nicht auf dem Gebiet der Lebensversicherungen. Bereicherung im Krieg hieße zu gewinnen. Aber die Deutschen haben verloren, und deshalb war es kein gewinnbringendes Geschäft.

WamS: Wenn es kaum noch unbezahlte Lebensversicherungspolicen von ermordeten Juden bei der Allianz gibt, warum zahlen Sie dann so großzügig in die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft ein?

Schulte-Noelle: Wir haben hier keine Diskussion über individuelle Schuld geführt. Dadurch konnte auch erreicht werden, dass sich viele Unternehmen beteiligt haben. Hier geht es um ein gemeinsames Bekenntnis von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zur Verantwortung, ein einmütiges Zeichen der Solidarität mit den Opfern.

WamS: Ist mit der Feldman-Studie das Kapitel 1933 bis 1945 für die Allianz abgeschlossen?

Schulte-Noelle: Sicher nicht, und es kann gar nicht abgeschlossen sein. Jeder, der sich bei uns meldet und sagt, er könnte noch einen Anspruch haben, mit dem werden wir uns beschäftigen. Wenn wir das Gefühl haben, dass dieser Anspruch berechtigt ist, dann ist die Stiftungsinitiative mit ausreichenden Mitteln ausgestattet, um diese Ansprüche auszuzahlen. Grundsätzlich kann keiner in unserer Generation dieses Kapitel unserer Geschichte als abgeschlossen ansehen. Wir müssen alles dafür tun, dass sich so etwas nicht wiederholt.

WamS: Was hat Sie am meisten schockiert, als Sie Professor Feldmans Studie lasen?

Schulte-Noelle: Besonders bedrückend empfand ich den schleichenden Prozess des Verlustes wirklicher Werte. Dies verband sich mit der menschlichen Schwäche, dem Anpassungsdruck stärker nachzugeben, als bei etwas mehr Mut notwendig gewesen wäre.

WamS: Denken Sie manchmal, was Sie gemacht hätten, wären Sie damals Allianz-Chef gewesen?

Schulte-Noelle: Ja. Und ich glaube, jeder von uns muss das Buch so lesen: "Wie hätte ich mich in dieser Situation verhalten?" Sonst kann man sich kaum fair und intellektuell redlich mit den handelnden Personen und deren Motiven auseinander setzen.

WamS: War es für die Allianz ein großes Risiko, diese Studie in Auftrag zu geben?

Schulte-Noelle: Natürlich war es ein Risiko. Niemand wusste, was am Ende herauskommen wird. Aber wie ich zu Beginn sagte: Wir wollten eine schonungslose Analyse unserer Geschichte in diesen zwölf Jahren, und das Ergebnis ist keine erfreuliche Lektüre. Da gibt es nichts zu beschönigen, und das wollten wir auch nicht. Professor Feldman hat viele bedrückende Aspekte gefunden und analysiert. Diese Kenntnis und die daraus resultierende Verantwortung werden die Allianz in ihrer Zukunft immer begleiten.

Das Gespräch führten Michael Anthony und Peter Issig.

"Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft 1933-1945" (Verlag C.H. Beck, 78 Mark) ist ab Montag im Handel.

Allianz-Versicherung

Dr. Henning Schulte-Noelle

  • Geboren 1942 in Essen
  • Jura-Studium in Tübingen, Bonn, Köln, Edinburgh, MBA in Wharton (Pennsylvania)
  • Seit 1975 bei der Allianz
  • 1988 Vorstandsmitglied der Allianz Lebensversicherung
  • Seit Oktober 1991 Vorstandsvorsitzender der Allianz AG

Prof. Gerald D. Feldman

  • Geboren 1937 in New York
  • Geschichtsstudium an den Universitäten Columbia (New York) und Harvard (Boston)
  • Seit 1970 Professor an der Berkeley-Universität (Kalifornien)
  • Autor zahlreicher Studien zur Geschichte deutscher Unternehmen im 20. Jahrhundert
  • 1995 Studie zur Geschichte der Deutschen Bank

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